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BE (German Edition)

BE (German Edition)

Titel: BE (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Eichinger
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interviewte und ihm den Film auf einer VHS-Kassette als Geschenk mitbrachte. Das Original ist verschwunden. Bernd und ich haben uns den Film dann noch einmal zu Hause angeschaut. Ihm waren die Längen und der Ausdruckstanz schrecklich peinlich, aber ich war überrascht und begeistert, wie gut der Film ist und wie effektiv er seine Geschichte erzählt. Auch war Bernd schon in seinem allerersten Film seinem späteren Prinzip treu und hat seinen Hauptdarsteller gut ausschauen lassen. Über die nackte Frau, die erstochen wird, musste Bernd sehr lachen: »Ödipaler geht’s ja wohl nicht! Aber ich wusste damals eben schon, ein nacktes Mädchen im Film kommt immer gut.«
    Auch wenn Bernd erkannt hat, dass er von seinen harten Jahren im Internat durchaus profitiert hat – im Sinne von »was dich nicht umbringt, macht dich stärker« –, so war es dennoch keine schöne Jugend. Nichts, woran er sich gerne erinnert hat. Und bis auf seinen Schulfreund Fax, den er im Münchner Internat kennengelernt hatte, hielt Bernd zu keinem seiner Mitschüler eine Freundschaft aufrecht. Einmal begegneten wir einem seiner ehemaligen Schulkameraden bei einer Veranstaltung. Dieser wollte das »uralter Freund aus ewigen Zeiten«-Spiel abziehen, aber Bernd blockte ab. Er wollte mit dieser Person nichts zu tun haben und wollte sich nicht an die alten Zeiten erinnern. Dieser Mensch sollte kein Anrecht auf ihn haben.
    »Ich hab die Schule so gesehen, als würde ich in einem Zugabteil sitzen. Leute steigen ein und steigen aus, aber das sind alles Fremde. Die haben nichts mit mir zu tun. Die sind nur notgedrungen in meiner Nähe. Ich muss nur abwarten, bis ich an meinem Ziel ankomme. Dann steige ich aus, und der Zug fährt weiter. Und ich kann endlich machen, was ich will.«
    Und so war’s dann auch. Bernd machte am 20. Juni 1970 sein Abitur. Mit einem »mangelhaft« in Mathematik und einem »ausreichend« in Englisch. In den Allgemeinen Bemerkungen seines Abiturzeugnisses steht zu lesen:
    Die besonderen Interessen und überdurchschnittlichen Fähigkeiten Herrn Eichingers lagen auf dem Gebiet der deutschen Sprache und Literatur und der musischen Fächer. Er zeigte aber auch in allen anderen Unterrichtsgebieten Fleiß und rege, aufgeschlossene Mitarbeit. Im Unterrichtsgebiet Gemeinschaftskunde erhielt er die Gesamtnote gut.
   Aufgrund eines schulärztlichen Zeugnisses war er von der Ablegung der Prüfung in Leichtathletik befreit.
   Dieses Zeugnis schließt das Zeugnis des Kleinen Latinums ein.
    Für Bernd bedeutete dieses Stück Papier, das wie alle Abiturszeugnisse in keinem Verhältnis zu dem steht, was sie einen gekostet haben, vor allem eins:
    »All die Jahre war ich eingesperrt gewesen. Hatte mich einer Ordnung unterwerfen müssen. Von nun an würde mir niemand mehr vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe. Niemand! Das war mein Entschluss, und an den habe ich mich auch mein ganzes Leben gehalten.«
    Trotzdem hat die Zeit im Internat Bernd nie losgelassen. Letztendlich bestimmt ja auch das, wovor wir weglaufen, unsere Wegrichtung. In Bernds Filmen – sei das nun »Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«, »Letzte Ausfahrt Brooklyn«, »Der Untergang« oder »Der Baader Meinhof Komplex« – geht es immer wieder um Leute, die gefangen sind in ausweglosen Situationen, egal ob durch eigenes oder fremdes Verschulden. Wenn ich die Szene in »Letzte Ausfahrt Brooklyn« sehe, wenn die streikenden Arbeiter zornig und verzweifelt an den Fabriktoren wie an Gefängnisstäben rütteln, dann muss ich vor allem an Bernd und an seine Schulzeit denken. Das Trauma, soll der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan gesagt haben, wird angeblich immer gefährlicher, je näher man ihm kommt. Genau wie Perseus die Medusa nicht direkt anschauen, sondern nur mit Hilfe ihrer Reflexion besiegen konnte, so kann es auch lebensgefährlich sein, sich dem Trauma zu nahe und zu direkt zu nähern. Aber genau das hat Bernd sein gesamtes Arbeitsleben lang immer wieder aufs Neue getan. Als wäre er magisch davon angezogen, hat er in einen Abgrund geblickt – so als wolle er sich vergewissern, dass es ihn wirklich immer noch gibt –, nur um diesen Abgrund für uns auf die Leinwand zu reflektieren und uns den Kopf der Medusa zu zeigen.
    Aber bevor all das geschehen sollte, würde es noch eine kurze Weile dauern. Jetzt hatte Bernd erst einmal sein Abitur in der Tasche. Der Abgrund lag hinter ihm. Bernd stellte das Cello für immer in die Ecke … und

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