BE (German Edition)
Absurdität Logik entgegenzusetzen, äußerte sich in Bernds Vorliebe für Ludwig Wittgenstein und dabei im Besonderen für den »Tractatus logico-philosophicus«, die »Logisch-philosophische Abhandlung«. Dieses kleine rote Buch schenkte mir Bernd, als ich ihn zum ersten Mal besuchte, wir kaum schliefen und uns in dem wahnwitzigen, magischen Sog des Kennenlernens befanden. Im Umschlag steht Bernds Name und von der ersten bis zur letzten Seite ist fast die Hälfte des Textes unterstrichen, mit Quervermerken, Ausrufezeichen und Ausrufen wie »Gut!« oder »wichtig« versehen. Seine Schrift ist kleiner und ordentlicher, als sie es später wurde, aber schon damals hat er so fest mit dem Stift aufgedrückt, dass gelegentlich fast die Seiten durchstoßen sind. Die Heftigkeit, der starke Druck, blieb bis zum Schluss das Markenzeichen von Bernds Schrift.
Im »Tractatus logico-philosophicus« sind einige Stellen doppelt und dreifach unterstrichen, die bezeichnend sind für Bernds späteren Werdegang und seine Einstellung nicht nur zum Filmemachen, sondern auch zu seiner Herangehensweise an die Verarbeitung von Geschichte:
Seine Form der Abbildung aber kann das Bild nicht abbilden; es weist sie auf. Das Bild stellt sein Objekt von außerhalb dar, darum stellt das Bild sein Objekt richtig oder falsch dar. Das Bild kann sich aber nicht außerhalb seiner Form der Darstellung stellen.
Und
Das Bild bildet die Wirklichkeit ab, indem es eine Möglichkeit des Bestehens und Nichtbestehens von Sachverhalten darstellt.
und
Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen.
An einer Stelle im Buch, in der es um »Die Welt, wie ich sie vorfand« geht und darum, wie man sich selbst sein eigener Mikrokosmos ist, hat Bernd dick unterstrichen »Murphy« geschrieben. Der Anfangssatz von »Murphy«, dem brillant absurden Roman von Samuel Beckett, dessen arbeitsscheuer Titelheld sich unter anderem nackt auf einen Schaukelstuhl fesselt, um absolute Ruhe und Loslösung vom Körper zu finden, wurde der Titel von Bernds Bewerbungsfilm für die Filmhochschule: »Die Sonne schien, weil sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues«.
In Bernds Bewerbungsfilm geht es um einen Internatsschüler, dessen Leben von der »Glocke« regiert und der dadurch in den Wahnsinn und Gewaltphantasien getrieben wird. In der Eröffnungssequenz steigt der Schüler aus der Straßenbahn, geht einsam und alleine den langen Weg ins Internat und sieht dabei aus wie Alain Delon in »Der eiskalte Engel« (1967): Trenchcoat, melancholischer Blick und die Zigarette der beste Freund. Im Hintergrund spielt coole sechziger Jahre Beatmusik. Resigniert gibt sich der Schüler der Internatsroutine hin. Die »Glocke« – genau wie Bernd es in seiner Kurzgeschichte beschrieb – regiert sein Leben bis ins kleinste Detail. Seine Einsamkeit verdeutlicht Bernd mit einem einfachen, aber effektiven Trick: Abgesehen vom sadistischen Hausmeister, der die Glocke bedient, und dem Priester, der die Morgenandacht verliest, sowie einem Mädchen, das zwar hübsch ist, mit dem er seine Gefühle aber nicht teilen kann, ist der Schüler alleine. Die Schulsäle, die Korridore, die Mensa, die Kirche – sie sind leer. Dass er trotzdem permanent von Menschen umgeben ist, wird durch den Sound aus dem Off verdeutlicht – Schullärm, redende Menschen, Gelächter, der gebetemurmelnde Stimmenchor einer Morgenandacht. Die Glocke wird immer penetranter, bis der Schüler schließlich nichts anderes mehr hört. Vom Schrillen der Glocke gequält, schleppt sich der Schüler in einem großartigen Beispiel für Ausdruckstanz durch die leeren Korridore der Schule. Dabei wirft er sich auf den Boden, schreit, versucht buchstäblich, die Wände hochzugehen. Das entbehrt vor allem durch die Länge der Szene nicht einer gewissen Komik, funktioniert aber emotional – die ständig schrillende Glocke macht auch den Zuschauer ganz wahnsinnig – und schaut vor allem super aus. Der Wahnsinn der Glocke endet in einer Gewaltorgie: Der Protagonist weiß sich nicht anders zu helfen, als den Mann, der die Glocke bedient, zu erstechen. Zudem ersticht er eine nackte Frau, die plötzlich in hochhackigen Schuhen vor ihm steht und deren Gesicht von einem Hut verdeckt wird. Doch am Ende entpuppen sich die Morde als Phantasie, denn der Schüler entflieht der Schule und findet den Weg hinaus in die Natur.
Bernd hatte den Film jahrzehntelang nicht mehr gesehen, bis ihn jemand im Sommer 2008 in seinem Münchner Büro bei der Constantin
Weitere Kostenlose Bücher