Beast
ja, das hält sowieso nicht lange. Ich weiß doch, wie sie in Wirklichkeit ist. Aber momentan finde ich es richtig klasse. Gestern Nacht habe ich einfach durchgepennt. Ohne Träume, weder gute noch schlechte. Ich kann mich nicht erinnern, wann mir das zuletzt passiert ist.
Ich war bei Eric, mich verabschieden. Ich hatte ein bisschen Schiss, aber er ist nicht mehr sauer auf mich. Er macht jetzt Wetterfahnen und hat mir die gezeigt, an der er gerade arbeitet. Sie hat einen Eisenpfeil, der sich nach Norden, Süden, Osten und Westen drehen kann. Obendrauf sitzt ein Stift, da will er ein Tier dranschweißen. Ich dachte, jetzt kommt er mit einem Hahn oder so was an, aber er hat mir ein schwarzes Eisenkrokodil gezeigt.
Er hat mir die Wetterfahne geschenkt. Vielleicht habe ich ja eines Tages ein Haus, wo ich sie draufsetzen kann. Oder ich montiere sie auf die Strandbar auf den Bahamas.
Von Oma und Chas verabschiede ich mich lieber nicht, die regen sich bloß auf. Mum kriegt sowieso nichts mehr |266| mit. Und Dad? Der ist bestimmt längst wieder auf Achse. Irgendwann taucht er wieder auf. Wie immer. Du bist der Einzige, von dem ich mich verabschieden muss. Ich dachte, hier oben passt es am besten. Ich nehme mein Auto mit und habe hundert Pfund für die Fahrt nach Schottland. Aber vorher muss ich noch etwas erledigen.
Die Sonne scheint durchs Laub auf die Wiese. Überall wachsen blaue Blumen. Die Vögel singen und es ist so warm, dass ich in T-Shirt und Hose gehe. Der Boden ist trocken. Schon komisch, wie sich das Wetter in ein paar Tagen ändern kann. Es kommt mir ewig her vor, dass ich zuletzt hier war, dabei war es erst letzten Monat. Wo Bäume gefällt wurden, wuchert lauter grünes Zeugs und ich muss mich richtig durchkämpfen. Es riecht gut und frisch, wie in einem sauberen Badezimmer.
Ich komme an die Lichtung mit der Hütte. Ich fege dürres Laub und Zweige von der Hängematte. Sie ist schon ewig nicht mehr benutzt worden. Im Hüttendach fehlt ein Brett, und als ich reingehen will, fliegen ein paar Tauben raus. Drinnen liegen ein vergammelter halber Kohlkopf und eine Tüte sauer gewordene Milch auf der Erde.
Ich höre ein Geräusch und gehe wieder raus. Ich laufe um die Hütte herum und beiße mir auf die Lippe. Vielleicht habe ich es mir ja nur eingebildet. In letzter Zeit bin ich nämlich ein bisschen neben der Spur. Seit der Geschichte auf dem Fabrikparkplatz ist alles anders. Als hätte sich die Welt irgendwie verschoben. Als würde ich alles mit anderen Augen sehen. Ich kann’s nicht erklären, aber mein Leben verläuft jetzt irgendwie reibungsloser.
|267| Da sehe ich ihn.
Er ist so abgemagert wie die Hungeropfer im Fernsehen. Er ist zu schwach, um sich groß zu bewegen, aber vor ihm steht ein Eimer mit abgestandenem Wasser, aus dem er offenbar getrunken hat. Grade genug, um am Leben zu bleiben. Überall liegt Müll. Scheißhaufen und Essen, eine aufgerissene Keksschachtel, eine Schinkenverpackung, eine Brottüte.
»Armer Kerl«, sage ich leise und streichle ihm den Kopf. Er blickt auf und seufzt. Sein Fell ist klatschnass. Ein Wunder, dass er nicht erfroren ist. Er ist schon mindestens zwei Wochen hier draußen. Ich binde mir den Pullover von der Hüfte und wickle ihn darin ein.
Dann knote ich den Strick los. Er ist so eng, dass er ihm in den Hals schneidet. Darunter ist die Haut ganz rot und wund. Ich stelle mir nur ganz kurz vor, wie er sich gefühlt haben muss, hier draußen ganz allein Tag um Tag, Nacht um Nacht angebunden zu sein und allmählich zu verhungern.
»Alles wird gut!«, sage ich. »Ich bin wieder da. Jetzt kümmere ich mich um dich.«
Ich hebe ihn hoch und drücke ihn an die Brust. Er ist federleicht.
»Komm, Malackie, mein Kleiner. Gehen wir.«
Informationen zum Buch
Stephen, 17 Jahre alt, hat noch vier Wochen Zeit. Dann muss er seine Pflegefamilie verlassen und in das Heim umziehen, in dem die Outcasts der Stadt landen – Typen wie sein Vater, ein Alkoholiker, Exknacki und Penner. Vier Wochen Zeit auch, um eine Lösung zu finden für sein schrecklichstes Geheimnis: Im entlegenen Teil eines Naturparks hält er ein Monster versteckt, das wächst und wächst und aus seinem Käfig auszubrechen droht. Weil er niemanden weiß, der ihm sonst helfen könnte, weiht er seinen Vater ein. Als der das Tier unbedingt mit eigenen Augen sehen will, wird Stephens schlimmster Albtraum wahr…
Informationen zur Autorin
Ally Kennen
wuchs auf einer Farm im Exmoor in England auf. In ihrer Kindheit
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