Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe
Leid.
Ich renne los und stolpere dabei über die verfallenden älteren Gräber, über verrottende Kastanien und die festgefrorenen Schneeberge auf den feuchten Blättern am Boden. Als ich die Anhöhe hinauflaufe, rutsche ich mit meinen Repetto-Schuhen über das Kopfsteinpflaster. Ich will nur noch weg, weg von dem geschäftigen Treiben auf dem Markt, weg von der Armut auf der Straße, von den vielen Toten, die mich in jeder Himmelsrichtung umgeben.
Endlich sehe ich Jay. Den schönen, süßen Jay. Ich wünsche mir so sehnlichst, direkt in seine starken Arme zu laufen. Alles, was ich will, ist das Gefühl, dass alles besser wird.
Doch da er mir keinen Schritt entgegenkommt, bewahre ich eine gewisse Zurückhaltung. Vielleicht hat er zu viel Angst, mich zu berühren. Vielleicht spürt er genau wie ich, dass da wirklich etwas zwischen uns war, etwas, das wir jetzt begraben müssen.
Damit meine Hände beschäftigt sind, zünde ich mir eine
Zigarette an, wobei ich mich umschaue, ob irgendwo Friedhofswächter stehen. Ich bin mir nicht sicher, ob das erlaubt ist.
»Ich komme gerade von Olivia.« Er ist ein bisschen außer Atem und in seiner Stimme liegt Verzweiflung. »Hast du's noch gar nicht gehört?« Jay starrt die Zigarette an.
»Nein. Was denn gehört?« Ich bemerke, dass Jays Augen rot gerändert sind. Ich bin nicht sicher, ob ich es wissen möchte, aber ich stelle ihm trotzdem die schreckliche Frage. »Jay, was denn?«
Als er es mir erzählt, fällt mir die Zigarette aus der Hand. Sie kullert über den Steinweg und verlischt in einer Pfütze aus geschmolzenem Schnee.
»Sie ist tot.«
Die durchweichte Zigarette schwimmt in der Pfütze. Ich kann Jay nicht ansehen. Ich weiß, dass der Schmerz in seinem Gesicht mich sonst umbringt.
»Mme Cuchon hat heute Morgen allen aus dem Programm eine E-Mail geschrieben. Hast du die denn gar nicht bekommen? Man hat zwei Rucksäcke und einen gemeinsamen Abschiedsbrief gefunden. Von PJ und ihrer Schwester Annabel. Sie sind von einer Brücke in die eisig kalte Seine gesprungen. Nicht in Paris - in der Normandie. In der Nähe von Rouen.«
»Unsere PJ?« Sie ist die Unsere. Wir haben sie geliebt und wir haben nach ihr gesucht und wir haben versucht, ihre Gedanken zu lesen. Sie gehört zu uns, zu Jay, zu Livvy, zu Zack und zu mir.
»Unsere PJ. Meine PJ. Sie hat Selbstmord begangen.« Jay legt zitternd einen Strauß weißer Rosen auf Ingres' Grab. Seine Stimme klingt heiser, gepeinigt und ungläubig. Am liebsten würde ich zu ihm gehen. Aber ich halte mich zurück, denn ich weiß, es wäre ihm nicht recht. Nicht jetzt und auch nicht irgendwann anders. »Das ist alles, was mir noch von ihr bleibt.«
Später am Abend, zurück in meinem Zimmer bei meiner Gastfamilie, scrolle ich durch meine SMS und die verpassten Anrufe und zähle, wie oft meine Mom mich in den vergangenen zwei Wochen versucht hat anzurufen.
Ich klicke auf ihre Nummer und warte darauf, dass sie in New York drangeht.
»Mom«, sage ich, als sie abnimmt, und meine Stimme zittert leicht. »Ich brauche dich. Bitte komm her.«
27 • ZACK
Illusionen
In Brüssel steigt eine amerikanische Familie in den Zug. Dass sie aus Arizona sind, erkenne ich daran, dass sie alle Arizona-Cardinals-Kleidung tragen, angefangen von ihren Jacken über ihre knallroten Socken bis hin zu den dazu passenden Jogginghosen. Sie scheinen nicht zu bemerken, wie sehr sie damit auffallen, oder wie seltsam es ist, für die Lieblingsmannschaft auf einem Kontinent zu werben, auf dem diese Mannschaft nicht mal spielt.
Als sie aus ihren Reisetaschen ihre Essenstüten von Burger King herausholen, muss ich unwillkürlich lachen. Wenn ich heute Abend nicht allein unterwegs wäre, würde ich für nichts mehr garantieren. Das ist einfach zu extrem, zu schrecklich amerikanisch, um es auszuhalten.
In Belgien wurden die Pommes frites erfunden - und diese Familie war bei Burger King?
Bobby hätte jetzt die bissigsten Kommentare abgelassen. Erst hätte ich leise kichernd in meinem Sitz gesessen, bis ich mir schließlich vor Lachen in die Hose gemacht hätte. Die arme Familie kann nichts dafür, dass sie sind, wie sie sind, aber im Ernst: Bobby hätte sie vom ersten Augenblick an, als sie in den Zug gestiegen sind, im Visier gehabt.
Ich grinse noch immer, als ich daran denke, wie lustig Bobby doch war und ist. In den ersten Tagen in Amsterdam hat er mich wirklich mit allem versöhnt. Pierson war so verdammt unerträglich, wie er Hannes angehimmelt hat, und
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