Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe
Ganz egal, was sie über mich wissen, ich bin besser dran, wenn ich nicht in ihrer Nähe bin. Vor meinem inneren Auge konnte ich damals wieder Annabels wallende schwarze Haare vorbeirauschen sehen - die mich dazu verleiteten, ihr zu folgen. Ihr Lieblingsbuch lag zufällig auf dem Tisch, in der Nähe meInès Mantels. Ich griff mir alles, was meine Hände tragen konnten. So schnell wie möglich, rannte ich durch den fallenden Schnee und sah dabei die ganze Zeit einen langen dunklen Pferdeschwanz vor mir, der in der Ferne hin- und herschwang. Dieser Vision bin ich den ganzen Weg nach Rouen gefolgt. Und nun weiß ich nicht mehr, wo ich hin soll.
Der Computer fiept, eine Vorwarnung, dass meine Zeit gleich um ist. Ich logge mich aus.
Draußen vor dem Fenster des Bistros kann ich einen Falafel-Imbisswagen am Bordstein stehen sehen. Er macht ein gutes Geschäft, indem er gefüllte Pitas mit Hummus, Tomaten, eingelegtem Gemüse, Kohl und Kichererbsenbällchen verkauft. Jede Falafel wird in Tahini und scharfer Soße fast ertränkt, und die Einheimischen nehmen sie dann in beide Hände und essen sie gierig im Weitergehen.
Eine junge Frau in einem karierten Swing-Kleid aus den Fünfzigern geht zu dem Stand. Sie zeigt auf die Zutaten, die sie haben möchte. Ich kann ihr ungezwungenes, unbefangenes Lachen hören, klar und deutlich. Sie vermeidet es, französisch zu sprechen.
Annabel liebt Frankreich, aber sie beherrscht die Sprache nicht. Ihr Französisch ist schrecklich.
Mein Herz setzt kurz aus.
»Annabel ... Annabel ...!«
Ich wusste es. Und doch kann ich es nicht glauben. Ich scheine gerade meinen Verstand zu verlieren, weil ich zu viel an die Vergangenheit denke. Ich reibe mir die Augen. Aber doch: Da ist sie noch immer - sie will sich gerade umdrehen und davongehen. Wie von der Tarantel gestochen, springe ich vom Stuhl auf, der laut umkippt, als ich zum Fenster sause. Ihre blauen Augen sind vor Müdigkeit verquollen und rötlich, aber es sind unverkennbar ihre.
Ich stürme durch das Café und zur Tür hinaus auf die Straße. Mir ist egal, wen ich dabei zur Seite stoßen muss. Zitternd stürme ich auf sie zu.
Ich hätte meinem eigenen Urteil nicht vertraut, nicht nach den letzten beiden Tagen, aber als ich den Geruch nach Wald rieche, so süß wie Äpfel ...
Sie ist es wirklich.
6 • OLIVIA
Das Leben ist zum Leben da
»Lass uns für immer hierbleiben«, flüstert mir Thomas ins Ohr, das Gesicht im baumwollenen Kissenbezug vergraben. Im trüben Kerzenlicht des Zimmers, in dem Thomas aufgewachsen ist und das ich nun in diesem Schuljahr bewohne, kann ich gerade mal die drei Leberflecke neben Thomas' perfektem Ohr ausmachen. Seine Haut ist glatt und babyzart.
Vor ein paar Stunden bin ich von der Probe heimgekommen. Thomas hat auf mich gewartet und mit großem Gehabe Zitronentee aufgebrüht und mich angebettelt, dass er mit mir in die Dusche kommen dürfe.
»Absolument!«, habe ich trocken geantwortet und mich beeilt, mir vorher zumindest schon mal die Schmutzschicht vom Tanzstudio runterzuwaschen, damit ich schnell wieder bei ihm bin.
Sauber geschrubbt und in meinen Morgenrock gewickelt, habe ich mich danach mit ihm ins schmale Bett gelegt, in dem wir nun jede Nacht gemeinsam schlafen, seit er aus den Alpen zurückgekehrt ist. Zum Glück ist Mme Rouille noch immer dort und macht Urlaub mit ihren Schwestern. Sie ahnt also nichts.
»Hast du denn gar keinen Hunger?«, frage ich kichernd. Es ist schon nach acht. »Ich verhungere gleich.«
»Im frigo ist ein bûche de Noël noch«, schlägt Thomas vor. »Bring den her, dann ich füttere dich damit.«
Ich schnaube. »Thomas, nein! Ich brauche was Richtiges, nichts Süßes ...« Ich reibe ihm sanft über den flachen Bauch. »Und du auch. Lass uns was zu essen besorgen.«
»Und diesen perfekten Ort verlassen?« Thomas legt seinen schlanken Arm um mich. »Das ist aber nicht schön.«
»Hmm.« Ich rolle mich so herum, dass mein Gesicht auf seiner glatten Brust liegt. »Klingt eine leckere französische Zwiebelsuppe denn nicht verlockend für dich?« Ich lecke mir schmatzend über die Lippen.
»Aber draußen ist es so kalt«, sagt Thomas. »Und du hättest also echt lieber Suppe als mich?«
»Ich hätte gern beides«, erkläre ich ihm. »Lass uns zum Café Dumont gehen. Ja? Ich zahle auch.«
Thomas springt aus dem Bett. »Es liegt in meiner Verantwortung, dass du in Paris nur das Allerbeste kennenlernst und machst. Wenn du Suppe also essen willst, dann werde ich
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