Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe
runtergespült, ohne wieder hochzukommen. Meinen Pass kann ich aber nicht wegwerfen. Den brauche ich vielleicht noch.
Mit einem tiefen Atemzug wickle ich meinen Pass in Klopapier. Als ich meine Unterhose und die Jeans wieder anziehe, stecke ich mir das Päckchen zwischen die Beine. Wenn es zu einer Leibesvisitation kommt, wird die Polizei es natürlich finden. Aber wie häufig sind Leibesvisitationen? Ich muss es darauf ankommen lassen. Und hey - es ist immer noch besser, als den Pass in eine Plastikhülle zu stecken und im Ganzen zu verschlucken, was ich sogar kurzzeitig in Betracht gezogen hatte, als mich die Bahnhofsmitarbeiterin zur schmuddeligen Toilette geführt hat.
»Çava bien ?«, fragt sie mich, als ich aus der Kabine komme.
»Oui, merci. Alles o. k.«, sage ich. Ich lächle ihr zu, aber sie erwidert mein Lächeln nicht.
Als wir zurückkommen, stehen bei den Bahnhofsmitarbeitern noch zwei Polizisten und eine Sozialarbeiterin. Dass sie eine Sozialarbeiterin ist, erkenne ich daran, dass sie einen Anzug trägt und keine Uniform. Die Mitarbeiterin hält mich so fest, als wäre ich ein listiger Welpe, der sich gleich losreißt und zur Tür läuft.
»Quel áge avez-vous ?«, fragt die Sozialarbeiterin. Sie ist jung und hübsch mit lockigem braunem Haar und Grübchen in den Wangen und einem Grübchen am Kinn. Ihre Stimme ist die freundlichste, die ich bis jetzt an diesem Morgen gehört habe.
»Dix-huite«, lüge ich sofort. Achtzehn.
»Wie heißen Sie?«, fragt sie mich. »Wir würden gern mit Ihnen darüber sprechen, warum Sie nachts im Bahnhof schlafen mussten.«
»Emma«, antworte ich und bemühe mich, so akzentfrei wie möglich zu reden. »Je m'appelle Emma Léon.«
»Emma, je m'appelle Binet Nagou.« Die Sozialarbeiterin gibt mir die Hand. »Sagen Sie mal, gehen Sie noch zur Schule oder machen Sie eine Ausbildung?«
»Oui«, erkläre ich Binet. »Ich gehe auf die École Nationale des Beaux-Arts. Je suis peintre .« Ich muss an das hagere Gesicht des Mädchens denken, das mir gestern Nacht geholfen hat - die Malerin. Ich erinnere mich, wie ungeduldig sie auf ihren Bruder gewartet hat und wie schnell die beiden davongebraust sind, nachdem sie mich abgesetzt hatten.
»Mein Bruder wohnt hier in Gournay-en-Bray«, erzähle ich der Gruppe auf Französisch. »Ich wollte ihn spontan zu Weihnachten besuchen. Bien sûr, wegen des Streiks herrscht ein totales Zugchaos. Als ich ihn per Handy informieren wollte, dass er mich abholen kommen soll, ging gleich die Mailbox dran. Da habe ich meine Mom angerufen. Sie hat mir erzählt, dass mein Bruder mit Freunden nach Grenoble gefahren ist, und meinte, ich solle auf direktem Wege nach Paris zurückkommen. Aber da fuhr schon kein Zug mehr. Also habe ich hier geschlafen.«
»Können wir Ihren Ausweis sehen?«, fragt einer der Polizisten.
Ich öffne meine Brieftasche. »Oh!«, rufe ich mit gespielter Überraschung. »Er ist weg!« Ich wühle in meiner Gesäßtasche. Dabei ist mir die ganze Zeit über unangenehm bewusst, dass mein Pass zwischen meinen Beinen steckt.
»Ich habe ihn anscheinend im Studentenwohnheim liegen lassen«, lüge ich.
»Und Ihr Zugticket?«, fragt einer der Bahnmitarbeiter.
»Das habe ich weggeworfen, als ich gestern spätabends aus dem Zug ausgestiegen bin«, antworte ich ruhig.
»Alors«, sagt ein Polizist und sieht mich mit einem seltsamen Blick an.
»Es tut mir wirklich, wirklich leid.« Ich senke die Stimme. »Kann ich nicht einfach wieder nach Paris zurückfahren? Ich verspreche auch, dass ich so was nie wieder machen werde.«
Alle Erwachsenen schauen sich erst gegenseitig an, dann mich. Mir bleibt nicht verborgen, dass die Bahnmitarbeiter mich am liebsten aus dem Bahnhof schmeißen würden. Dabei waren es ihre Kollegen, die sich gestern Abend hätten vergewissern müssen, dass sich wirklich niemand mehr im Bahnhof aufhält. Wenn ich etwas Kriminelles angestellt hätte, müssten sie jetzt den Kopf dafür hinhalten. Und die Polizisten wollen mir offensichtlich am liebsten ein Ticket in die Hand drücken, nur um irgendetwas zu tun.
Aber Binet möchte sich mit mir unterhalten, und so pfeift sie die Hunde zurück, ehe noch etwas passieren kann. »Setzen wir uns kurz, Emma.«
Ich folge ihr zu einer Holzbank. Draußen, vor den großen Panoramafenstern, die auf die Rückseite des Bahnhofs zeigen, fahren Züge auf die Gleise. Französische Kleinstädter in Arbeitsstiefeln, schweren Wintermänteln und unter dem Kinn zusammengeknoteten
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