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Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe

Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe

Titel: Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Silag
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Schals beginnen den Bahnhof zu bevölkern. Die Polizisten und Bahnhofsmitarbeiter beobachten uns aus einiger Entfernung.
    »Emma, Sie müssen wissen, dass ich hier bin, um Ihnen zu helfen«, sagt Binet beschwörend. »Aus diesem Grund - und nicht aus Respektlosigkeit Ihnen gegenüber - würde ich Ihnen gern die folgende Frage stellen: Sagen Sie, Emma, sind Sie ... haben Sie als Prostituierte gearbeitet?«
    Mir bleibt der Mund offen stehen. »Non!« Ich schreie fast. »Qu'est-ce que vous dites? Was sagen Sie denn da?«
    »Emma, in der Normandie gibt es Unterkünfte für Frauen wie Sie.«
    »Oh mein Gott.« Ich schüttle nachdrücklich den Kopf. »Niemals. So was würde ich echt niemals tun.«
    Ich rücke ein Stückchen von ihr ab, empört darüber, was sie mir gerade unterstellt hat. Kurzzeitig verwandelt sich ihr hübsches Gesicht in die alte, schlaffe Fratze von M. Marquet, und genau wie an Heiligabend, als sein Gesicht dem meinen so nah war, kann ich nicht atmen. Ich kann nichts sehen. Meine gesamten Kräfte sind darauf konzentriert, nicht laut loszuschreien.
    »Ich kann Ihnen helfen«, wiederholt Binet insistierend. Aber ich schüttle nur den Kopf.
    »Ich bin keine ... Prostituierte. Ich bin Studentin. Ich brauche Ihre Hilfe nicht, ich muss bloß nach Paris zurück. Darf ich bitte gehen?« Ich kann ihr nicht mal ins Gesicht sehen.
    »Ja, Emma, ich denke schon.« Sie drückt mir eine Visitenkarte in die Hand, auf der ihr Name und eine Telefonnummer stehen. »Wenn Sie jemals wieder in so eine Notsituation geraten sollten wie hier, rufen Sie mich an. Bitte übernachten Sie nicht wieder in einem Bahnhof.«
    »Gut«, sage ich. Ich wende mich dem Fahrplan zu und entferne mich schwankend von ihr, von ihnen allen, den Bahnhofsmitarbeitern in ihren marineblauen Uniformen und den Polizisten mit den schweren Stiefeln und den harten Schlagstöcken an den Gürteln. Ich kann gar nicht schnell genug zum Zug nach Rouen kommen. Er steht am allerletzten Bahnsteig. Sollen sie doch rätseln, welche Route ich nehme. Soll Binet sich Sorgen machen, ob mit mir alles in Ordnung ist oder nicht. Ich weiß nur eins: Ich muss unbedingt zu Annabel. Sie ist die Einzige, die die Situation verstehen wird. Ich weiß nicht, ob sie wirklich in Rouen ist. Ich habe keine Ahnung. Aber es ist immer noch besser, sie zu suchen, als den Gedanken zuzulassen, dass ich wirklich und wahrhaftig allein bin - das zumindest weiß ich.
    Ich muss sie finden, wiederhole ich im Stillen, während mir Tränen in den Augenwinkeln brennen.
    Prostituierte ... Hände ... der Betonboden im Bahnhof von Gournay-en-Bray, die Art und Weise, wie ich ihn durch meinen Mantel und meine Jeans und sogar meine Schuhsohlen hindurch spüren konnte. Die ganze Fahrt nach Rouen über versinke ich immer wieder in kurze Tagträume über die letzten paar Tage. Ich träume von dem netten Typen mit dem Baseball-Käppi und davon, wie der Zug von kargen Schneefeldern umgeben war. Ich sehe wieder die Polizisten vor mir, die mich für ein Straßenmädchen gehalten haben, eine arme, mittellose und obdachlose Schülerin. Als der Zug quietschend in den Bahnhof von Rouen einfährt, reibe ich mir die Augen und schlucke den Ärger und die Angst hinunter, die mich nun schon seit Antritt der Reise begleiten.
    Als ich aussteige, finde ich mich in einer Stadt wieder, die so gar nicht dem Bild entspricht, das ich mir am Tag zuvor beim Lesen von Madame Bovary gemacht habe. Ich habe eine Kleinstadt am Ende der Welt erwartet. Dabei ist Rouen ziemlich lebendig. Auf jeden Fall viel lebendiger als zu Flauberts Zeiten.
    In dieser Stadt starb Jeanne d'Arc - die heilige Johanna von Orleans - den Märtyrertod, und zwar auf dem Marktplatz unweit vom Bahnhof. Das lese ich auf der »BIENVENUE À ROUEN«-Anschlagtafel im Vorraum, wo ich mir einen Espresso aus einem Automaten ziehe. Als ich ihn ausgetrunken habe, öffne ich die Schiebetüren und gehe die Rue de Jeanne d'Arc entlang, während ich vor meinem inneren Auge andauernd das Bild der jungen Frau vor mir sehe, die an einen Pfahl gebunden verbrannt wurde. Mir ist, als könnte ich ihre Schreie hören, als ich mich dem Platz nähere, auf dem sie unter Folterqualen starb - aber vielleicht ist das auch bloß meiner Erschöpfung geschuldet.
    In der Rue du Gros-Horloge biege ich rechts ab und folge dem Touri-Trampelpfad die lange Fußgängerzone hinunter, die anscheinend irgendwohin führt - vielleicht zu einem Platz oder einer Kirche.
    Rings um mich herum ragen überall

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