Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe
Mme Rouille mir nur selten so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Sie ist sonst eher förmlich und auf ihre vielen gesellschaftlichen Verpflichtungen bedacht, und obwohl mein Französisch recht anständig ist, spricht sie ausschließlich Englisch mit mir. Fast wie eine bewusste Grenze, damit sie sich mir gegenüber nicht öffnet, so als wüsste sie, dass ihr Englisch zu begrenzt ist, um mir wirklich nahezukommen, und als glaube sie, das gelte umgekehrt auch für mein Französisch. Allerdings zerbreche ich mir darüber nicht allzu sehr den Kopf...
Aber genau genommen mache ich mir doch viele Gedanken über die Rouilles, vor allem jetzt, mit meinen Gefühlen für Thomas. Seit ich hierhergekommen bin, habe ich nie ganz verstanden, warum sich Mme Rouille überhaupt bereit erklärt hat, eine amerikanische Schülerin aus dem Lycée bei sich aufzunehmen. Mme Rouille ist zwar im Ausschuss vom Lycée de Monceau, Thomas ist dort zur Schule gegangen, und sie sammelt Spenden für die Schule. Außerdem geht ihr Sohn jetzt auf die Sorbonne und wohnt im Studentenwohnheim auf der anderen Seite des Flusses. Allem äußeren Anschein nach ist sie also die perfekte Kandidatin. Aber sie gehört zu den Erwachsenen, die sehr wenig Interesse an Kindern haben, wenn es nicht ihre eigenen sind, und sie unternimmt nicht mal den Versuch, mich wirklich als Gast zu behandeln, indem sie darauf eingeht, was ich mag oder nicht mag. Mme Rouille stellt mir nur äußerst selten Fragen zu meiner Person oder darüber, wie ich aufgewachsen bin, oder bezüglich meines Geschmacks oder was ich von Paris und Frankreich halte. Nichtsdestotrotz tut Mme Rouille, zusammen mit ihrem Dienstmädchen Elise, alles in ihrer Macht Stehende, dass ich das, was ich brauche, habe, und ich fühle mich sicher und glücklich. Die kleine Wohnung, in der wir in Ternes leben, ist ruhig und für mich der richtige Ort, um mich nach meinem täglichen Tanztraining am Nachmittag dann auf die Schule zu konzentrieren.
Aber heute Abend nimmt Mme Rouille ungewöhnlich starken Anteil an mir. Sie will wissen, wie es meiner Familie in Paris gefallen hat und was sie sich alles angesehen haben, als sie zu Besuch waren. Dann befragt sie mich wieder und wieder zu meinem Auftritt und wie ich André und Henri finde und ob ich schon für eine der Frühjahrsproduktionen vom Underground vorgesehen bin oder nicht.
»Äh, nein«, beantworte ich ihre letzte Frage. »Nicht offiziell.«
»Aber Olivia -«, mischt sich Thomas ein. »Sie müssen dich doch für irgendetwas vorgesehen haben.«
Ich werde rot. »Na ja, vielleicht schon. Ich möchte mich für alle Fälle fit halten.« Henri hatte angedeutet, dass ich im Frühjahr vielleicht eine der Hauptrollen in einer der Produktionen bekommen könnte. Das war auch einer der wesentlichen Gründe gewesen, warum ich sofort die Chance ergriffen hatte, bei der Revue Bohème mitzutanzen. Aber es gab noch kein richtiges Vortanzen.
»Ich habe sogar überlegt, ob ich heute Abend nach dem Essen noch in unseren Proberaum gehe, wenn das okay ist. Ich würde gern an meinen Drehungen arbeiten.«
»Aber natürlich, chérie. Thomas, fahr Olivia doch bitte mit dem Auto ins Studio, wenn du nichts dagegen hast.«
»Bien sûr, Maman.« Das lässt sich Thomas nicht zweimal sagen - was für eine Gelegenheit, mich allein durch die Stadt zu kutschieren, nur er und ich in dem großen Mercedes! Meine Beine zucken unter dem Tisch, so überrascht und aufgeregt bin ich. Fast trete ich aus Versehen Mme Rouille.
»Es muss wunderbar gewesen sein, da oben vor all den Leuten zu stehen, und das auch noch an einem so aufregenden Abend«, schwärmt Mme Rouille und ihre Wangen färben sich rosarot. »Früher wollte ich selbst mal Tänzerin werden, musst du wissen.«
Mir bleibt der Mund offen stehen. Mme Rouille, mit ihrem weißblonden Pagenschnitt und ihrer steifen Art kommt mir eher wie eine geeignete Staatschefin vor als wie eine Ballerina.
»Das wusste ich ja noch gar nicht«, bemerkt Thomas. »C'est vrai?«
»Oui, das ist wahr«, bestätigt Mme Rouille. »Jeder hat geheime Träume. Ich hatte nur einfach nie die Chance dazu. Deshalb freue ich mich so darüber, unsere Olivia tanzen zu sehen. Du musst mir den Spielplan geben, sobald er feststeht. Und vielleicht könnten wir an einem der nächsten Tage mal zusammen ins Nationalballett gehen? Es hat gerade die neue Spielzeit begonnen. Vielleicht eine Sonntagsmatinée und danach ein Essen. Wäre das nicht schön?«
»Oh mein Gott!«, rufe
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