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Beautiful Americans 03 - Leben á la carte

Beautiful Americans 03 - Leben á la carte

Titel: Beautiful Americans 03 - Leben á la carte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Silag
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Na ja, es fühlt sich zumindest solange gut an, solange ich nicht gerade wieder einen meiner Ausraster habe. In meinen ruhigeren, weniger wütenden Augenblicken kommt er mir wie der einzige Hafen vor, an dem ich zurzeit vor Anker gehen kann. Wenn ich den verliere, bin ich wie eines dieser Fischerbötchen auf der Seine, die sich mitten in der Nacht vom Ufer lösen und vor sich hintreiben, ohne Ziel und ohne einen Menschen, der sie wieder einholt.
    Im Proberaum gibt mir André ein Begrüßungsküsschen und hilft mir, in den Spagat hinunterzukommen, indem er mich zum Boden hinunterdrückt, während ich mich dehne. »Verdammt, Mädchen, du bist heute total angespannt«, stellt er fest. »Du machst dich besser locker, sonst ist die Verletzungsgefahr zu groß.«
    Ich nicke, wohl wissend, dass damit nicht zu spaßen ist, fühle mich aber gleichzeitig getadelt. Irgendwie mache ich zurzeit anscheinend alles falsch. Ich stehe wieder auf und hole ein paarmal tief Luft, ehe ich zum zweiten Mal in den Spagat gehe. Diesmal verschmilzt mein Körper schon etwas mehr mit dem Boden.
    Unser Choreograf Henri kündigt an, dass er an einer Schrittfolge arbeiten möchte, die von Filmen aus dem Zweiten Weltkrieg über Militärparaden inspiriert ist. Er legt harte, heftige Rockmusik auf, in die wir uns ein paar Minuten einhören sollen, damit wir schon mal in die Atmosphäre der Choreografie eintauchen. Während des Crescendos springt André schreiend herum; er fühlt es richtig in sich. Das entspricht total seiner Art zu tanzen. Henri stellt die Musik aus und beginnt, uns im Raum zu arrangieren.
    Nachdem er die Körper der sechzehn Underground-Tänzer in einer rechteckigen Formation mit Blick zum Spiegel aufgestellt hat, vollführen wir zackige, roboterhafte Bewegungen, die den altmodischen Militärpomp symbolisieren. Wie bei der Armee machen wir den Tanz immer und immer wieder durch, bis wir fast vor Erschöpfung zusammenbrechen. Erst als wir von den kräftezehrenden Armchoreografien und schweren Sprüngen, alle vollkommen synchron, praktisch k.o. sind, möchte Henri uns einen ruhigeren Teil der Choreografie zeigen, den er als emotionalere Kampfszene betitelt.
    »Il faut se battre ou vous allez mourir!«, schreit Henri über die Musik hinweg. - Ihr müsst kämpfen, sonst seid ihr des Todes!
    Die ganze Probe ist so intensiv, dass ich mich, als Henri uns endlich entlässt, fühle, als wäre ich wirklich im Schlachtgetümmel gewesen.
    »Das war besser als Sex«, bemerkt André und legt mir seinen Arm um meine schweißnassen Schultern. »Findest du nicht?«
    Ich lächle schwach, zu erschöpft, um rot zu werden. Egal was es genau war - es hat mich jedenfalls eine Weile von meinem echten Leben abgelenkt, und das ist im Moment das Beste, was mir passieren kann.
    Während die Underground-Tänzer sich wieder ihre Warm-ups anziehen und einer nach dem anderen aus dem Proberaum in dem gewaltigen und heruntergekommenen Lagerhaus hinausgeht, schreibt mir Thomas eine SMS, dass er mich morgen früh noch vor der Uni sehen will.
    Warum so früh?, schreibe ich zurück. Warum nicht nach der Schule?
    Ich habe Seminar, entgegnet Thomas. Und ich möchte nicht bis morgen Abend warten.
    Ok, schreibe ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Wo?
    Pont des Arts, schreibt Thomas. Bis dann.
    Tausend Küsse, schreibe ich zurück, bekomme aber keine Antwort mehr.
    Erleichterung durchflutet mich. Wieso habe ich mich vorhin nur so verrückt gemacht? Bei Thomas und mir ist alles gut.
    * * *
    Die Pont des Arts ist eine Fußgängerbrücke aus Holz, die in der Nähe des Louvre das linke mit dem rechten Seine-Ufer verbindet. Am frühen Morgen nehme ich die Metro vom Charles de Gaulle-Etoile bis Louvre-Rivoli und trete aus dem Untergrund in den hellen Sonnenschein hinaus, auf eine der schicksten Straßen von Paris. Obwohl ich lange wach war und bis spät die Konjugation französischer Verben gelernt habe (wie üblich), fühle ich mich hellwach und freue mich, Thomas schon so schnell wiederzusehen.
    Als ich den Quai du Louvre überquere und die Holzstufen auf die Brücke hinaufgehe, kann ich Thomas auf der gegenüberliegenden Flussseite sehen, als kleine Miniatur seiner Selbst, wie er gerade die Stufen auf seiner Seite hinaufsteigt. Er hat seine abgetragene Cordhose und einen schweren militärgrünen Wollmantel an, der ihn vor der Kälte schützt. Sein niedlich gelocktes Haar ist zerzaust, ob vom Wind an der Seine oder weil er schon so früh auf ist, vermag ich nicht zu sagen. Ich

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