Beautiful Americans 03 - Leben á la carte
»Ich habe echt viel um die Ohren. Ich gehe fast jeden Tag direkt nach der Schule zur Probe. Es ist nicht so lustig, dauernd nach Hause zu hetzen, um sich schnell umzuziehen.«
»Und jetzt du schminkst dich auch«, sagt Thomas und deutet mit seinen behandschuhten Fingern auf mein Gesicht. Die Geste ist ganz anders, als wenn er sonst die Hand gehoben hat, um mich zu berühren oder mir die Haare aus den Augen zu streichen. »Jeden Tag du trägst das.«
Sofort fahre ich mir an die Wangen. »Make-up?« Er hat recht, ich trage jeden Morgen Make-up auf. Normalerweise schminke ich mich vor der Probe ab, damit es nicht zerläuft, wenn ich während unserer anstrengenden Probe schwitze, aber untertags trage ich gern Kajal. Das hat in den Tagen angefangen, nachdem ich erfahren hatte, dass PJ gestorben war. Ich konnte nicht schlafen, und wenn ich in den Spiegel gesehen habe, bin ich immer fast zusammengezuckt, wie hohlwangig ich aussah, die Augen halb hinter geschwollenen Lidern verborgen.
»Immer so dunkel, dunkel«, sagt Thomas. »Dabei ich habe mich in ein Mädchen verliebt, das war hell und leicht, so leicht wie die Luft...«
Ich schrecke zusammen, weiß aber nicht, ob es daran liegt, dass mich seine Bemerkung verletzt oder weil seine Sicht und Wahrnehmung von mir so anders ist als meine eigene.
Ich denke an unsere ersten gemeinsamen Augenblicke zurück. Wie ich auf Krücken durch die Straßen gehumpelt bin, während er meine Bücher für mich getragen hat. Wie ich mich nichtsahnend in Strumpfhosen und Spitzenschuhen vor ihm gedreht habe, weil Mme Rouille ihn geschickt hatte, um mich vom Tanzunterricht abzuholen. Damals war ich noch blond gewesen. Ich versuchte immer, dafür zu sorgen, dass es allen Mitmenschen gut ging. Versuchte immer, besser zu sein - eine bessere Tänzerin, eine bessere Schülerin, ein besserer Gast im Hause der Rouilles.
»Ich fühle mich jetzt aber wohler«, erwidere ich. »Ich bin sogar ... Ich glaube, ich habe dieses Jahr viel gelernt. Ich glaube, ich fange gerade an, mich selbst zu finden.«
»Ach ja?«, sagt Thomas. »Das glaube ich aber nicht.«
»Thomas, qu'est-ce que tu dis?«, frage ich ihn und bin mir bewusst, dass ich vielleicht gleich in Tränen ausbreche, wenn er noch mehr sagt. Aber eigentlich will ich genau das mit aller Macht vermeiden, nach diesen ganzen Vorwürfen.
»Ich glaube, du weißt nicht mehr, wer du bist. Du bist ange... ange pisst. Immer in Veränderung. Du hast ein neues Aussehen, neue Freunde, vielleicht sogar schon einen neuen Freund am Horizont -«
»Einen neuen Freund?« Aus Schock muss ich fast lachen. »Thomas, wovon in aller Welt redest du?«
»Dieser Typ, dieser Balletttyp, André.« Thomas spuckt den Satz mehr aus, als dass er ihn sagt. Zum ersten Mal merke ich, wie viel Wut er bis jetzt unter Verschluss gehalten hat. »Er nimmt dich mit zum Friseur, zu Konzerten in Bercy. Er will dich dauernd sehen. Und du sagst immer, dass wir nicht haben genug Zeit füreinander! Vielleicht könnten wir ja mehr zusammen sein, wenn du nicht ständig würdest was mit diesem André machen.«
Mir steht der Mund offen. »André?«
»Oui , André«, sagt Thomas. Er scheint selbst zu wissen, dass er sich absurd verhält, denn er kann mir nicht in die Augen blicken.
»André ist schwul, Thomas.« Plötzlich muss ich laut lachen. Ich kann nicht anders: Mehrere Minuten lang lache ich prustend. Natürlich ist das absolut unangebracht, aber das ist einfach die seltsamste Wendung in einem sowieso schon total abgefahrenen Gespräch. André würde sich totlachen, wenn er wüsste, dass Thomas eifersüchtig auf ihn ist. Eifersüchtig darauf, dass er mit mir zu Marni gegangen ist, die im Hinterstübchen eines muffigen Retroladens Haare schneidet! »André würde gern was mit Zack anfangen, Thomas. Nicht mit mir!«
Mein Lachen verstört Thomas nur noch mehr. »Du findest das lustig, aber ich meine es sehr ernst, Olivia! Du hast dich verändert. Ich bin fertig. Zu viele Auf und Abs, Auf und Abs. Bei dir es gibt so viel ... Drama.«
Drama, dieses Wort muss Thomas von mir aufgeschnappt haben. Diesen Ausdruck aus seinem Mund zu hören, ist gleichermaßen witzig wie erbarmungswürdig, weil ich weiß, woher es kommt und dass es stimmt. Mit mir gab es wirklich viel Drama. Erst hatte ich einen Freund, dann wieder nicht. Erst stand ich kurz davor, nach Kalifornien zurückzukehren, dann wieder nicht. Dann ist meine Freundin verschwunden. Und dann war sie tot.
Aber was ist mit dir?, hätte ich
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