Beautiful Americans 03 - Leben á la carte
kichere. Ob er heute Morgen überhaupt mal in den Spiegel geschaut hat? Manchmal ist er echt so verpeilt.
Als Thomas mich sieht, winkt er. Aber es ist kein freudiges Winken, sondern eher müde. Er lächelt nicht mal dabei. Sofort ballt sich Wut in meiner Brust. Es war seine Idee, sich so früh zu treffen, fährt es mir durch den Sinn. Warum hat er den Termin vorgeschlagen, wenn er sich dann jetzt so benimmt, als handle es sich um irgendeine lästige Pflicht?
Ich sehe ihm mit einem breiten, freundlichen Lächeln entgegen, während er auf mich zukommt. Als wir uns in der Mitte der Brücke treffen, zeigt er auf eine leere Bank, und wir setzen uns. Im Moment sind nicht allzu viele Leute um uns herum, aber immerhin doch ein paar - einige von ihnen sehen so aus, als hätten sie die ganze Nacht in den umliegenden Cafés der Sorbonne Espresso getrunken, andere, eher ältere, gehen vor der Arbeit joggen. Überall sitzen Vögel herum, auf den kleinen Schaukästen, in denen lokale Kunstwerke ausgestellt werden, auf dem Geländer und den Lampen, und manche picken sogar auf leere Weinflaschen ein, die nachts von Feiernden liegen gelassen wurden. Die Pont des Arts ist, soweit ich gehört habe, ein Treffpunkt für Bohemian-Party-Typen, also Leute, die gern nur herumsitzen und die ganze Nacht trinken und über Kunst und das Leben sprechen. Wie Thomas und seine Freunde.
Ich beuge mich vor und küsse Thomas auf die Wange, aber nicht so sehr, weil ich es will, sondern weil ich will, dass ich es will. Ich möchte, dass alles wieder normal wird zwischen uns. Warum hat nur alles diese bittere Note bekommen?
»Wieso wolltest du mich so früh sehen?«, frage ich ihn. »Du wirkst müde.«
Thomas nickt. »Ich konnte nicht länger warten, zu sagen es dir - ich will Schluss machen.«
Ich schaue auf den morgendlichen Berufsverkehr, die Autos, die über den Quai de Conti nach Westen fahren, und habe das Gefühl, mich verhört zu haben. »Was hast du gesagt?«
»Ich möchte nicht mit dir mehr zusammen sein«, entgegnet Thomas, seine Stimme wie seine Augen wirken matt. Seine Brillengläser beschlagen ein bisschen. Ob er wohl anfängt zu weinen? In einer Art Schockzustand denke ich darüber nach, was er gerade gesagt hat - ich weiß, was vor sich geht, und ich weiß auch, dass ich traurig darüber bin, aber das Ganze kommt so vollkommen unerwartet, dass ich in gewisser Weise nur staunend dastehen und zusehen kann.
»Als ich dich 'abe kennengelernt, du warst ganz anders, Olivia«, sagt Thomas. »So süß und lieb und immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Jetzt ... jetzt du bist manchmal so traurig.«
»Thomas«, sage ich. »Meine Freundin wird vermisst. Sie ist vielleicht sogar tot. Das macht mich traurig.«
»Das ist es nicht«, entgegnet Thomas. Er schüttelt den Kopf, als hätte er erwartet, dass ich es nicht auf Anhieb verstehen würde. »Es ist eher so, als du magst nicht, wer du warst. Du bist angespannt. Launisch. Du hast eine völlig andere Frisur, einen anderen Kleiderstil. Früher hast du bunte Sachen getragen, T-Shirts mit Blumen. Jetzt du trägst die ganze Zeit nur noch dunkle Sachen.«
Ich blicke an mir hinunter. Ich habe meinen Mantel an und darunter einen Ballettpulli und ein Lycra-Tanzoberteil. Da ich nicht direkt zur Schule wollte, habe ich mir eine lockere Drillichhose statt einfach nur einer Trainingshose angezogen. Mir ist durchaus bewusst, dass ich nicht mehr so mädchenhaft und ordentlich aussehe wie im letzten Schulhalbjahr, aber das liegt daran, dass meine alten Klamotten nicht zu meinem neuen Haarschnitt passen.
Früher bin ich morgens aufgestanden und habe zumindest eine saubere Jeans und ein farbiges, schön geschnittenes T-Shirt angezogen, oft noch ein bisschen Schmuck angelegt, wie zum Beispiel die »O«-Kette von Tiffany, die meine Mom mir geschenkt hat. Aber in letzter Zeit ziehe ich mich eher so an wie die anderen Tänzer aus dem Underground: dunkle Farben und ohne allzu sehr auf Falten oder eine schöne Zusammenstellung zu achten. Ich versuche zumindest, nicht darauf zu achten. Es wäre nämlich ziemlich schwer, sich geistig auf solche verrückten Avantgarde-Choreografien einzustellen, wie wir sie gestern Abend geprobt haben, wenn ich noch dieselbe mädchenhafte Haltung hätte wie zu meinen alten Kalifornien-Zeiten.
»Na ja«, sage ich, unsicher, wie ich mich am besten verteidigen kann. Ich meine, Thomas kämmt sich kaum die Haare. Und jetzt will er von mir wissen, warum ich so verstrubbelt aussehe?
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