Beautiful Americans 03 - Leben á la carte
am liebsten gesagt, wenn ich den Mut dazu gehabt hätte. Einen kurzen Moment mache ich Thomas innerlich stille Vorwürfe, die ich niemals laut aussprechen könnte. Gemeinsam beobachten wir, wie sich in unserer Nähe ein Obdachloser an einem sonnigen Plätzchen in einen Schlafsack wickelt. Bevor er einschläft, stellt er vor seiner Lagerstätte einen Pappbecher und ein kleines Pappschild auf, auf dem er um etwas Geld bittet. Was ist mit dir und deinen Familiengeheimnissen, die in den Weihnachtsferien an die Oberfläche gekommen sind?, möchte ich ihm am liebsten in sein feiges bleiches Gesicht schleudern. Was ist denn mit diesem ganzen Drama?
Aber ich kenne den Unterschied zwischen meinem und seinem Drama: Er kann nichts daran ändern, kann nicht ändern, welche Rivalitäten es in der Vergangenheit zwischen den Marquets und seinen Eltern gab. Mein Drama dagegen spielt sich hier und jetzt ab. Mit anderen Worten: Ich könnte etwas dagegen tun. Aber ich will es nicht. Und damit kann er nicht umgehen, das ist zu schwer für ihn.
»Ich werde jetzt gehen, okay?«, sage ich zu Thomas und schaue ihn endlich wieder direkt an. Wegen des Sonnenlichts, das eine Art Heiligenschein um seinen Lockenkopf bildet, muss ich blinzeln. Ich habe nicht damit gerechnet, dass das Wetter so schön werden würde, deshalb habe ich meine Sonnenbrille zu Hause gelassen. Schade. Es ist einfacher, als ich dachte, ganz ruhig zu sprechen und die Tränen zu unterdrücken. Für einen kurzen Augenblick hatte ich befürchtet, ich würde zusammenbrechen, aber jetzt weiß ich, dass ich stark bleibe. Genau wie bei PJ kommen die Tränen nicht an die Oberfläche. »Ich habe verstanden. Ich bin nicht wütend, aber ich möchte jetzt gehen. Bis ... ein andermal, denke ich.«
Das ist eine Lüge. Ich bin wütend, aber meine Wut ist so tief vergraben, dass ich dort im Moment nicht hinkomme. Ich bin gleichzeitig wütend und enttäuscht und seltsam beschämt. Mein Körper, alles fühlt sich so an, als würde es zur Schau gestellt, fast so wie die Kunst in den Glaskästen auf der Brücke.
»Olivia.« Thomas nimmt meine Hand. »Ich liebe dich noch immer ... Ich will das nur einfach nicht mehr. Es funktioniert nicht.«
Ich lasse seine Hand fallen und gehe weg, mit gleichmäßigen und langsamen Schritten, zurück über die Pont des Arts in Richtung Louvre.
Wie das wohl funktionieren wird? Die Trennung, meine ich. In meinem Zustand der leichten Betäubung, im Versuch, mich zusammenzureißen, denke ich nur an die ganze Logistik. Das lenkt mich davon ab, an ... all das Schwierige zu denken. Wie zum Beispiel allein zu sein. In Paris. Der wunderschönen königlichen Stadt, wo alles so königlich schiefgegangen ist.
Von jetzt an wird die Seine die Grenze zwischen unseren beiden verfeindeten Königreichen bilden. Er muss auf dem linken Seine-Ufer bleiben, und ich werde mich nur noch auf dem rechten aufhalten. Natürlich wird das so nie klappen, allein schon wegen meiner Proben am Place d'Italie und seiner Mutter, die im 17. Arrondissement lebt. Aber an diesem Morgen werde ich zumindest so tun, als wäre ich umso sicherer vor dem Schmerz, den es mir bereitet, ihn loslassen zu müssen, je weiter ich mich von der Seine entferne.
Bevor ich den Quai du Louvre überquere, drehe ich mich noch einmal um und lehne mich an die Steinmauer, die an der Seine entlangführt. Thomas sitzt nicht mehr auf der Bank. Er ist verschwunden. Die Seine sieht kraftvoll aus und glitzert, sie führt ruhig dahinströmendes Wasser, und entlang des Ufers sprießt das Pariser Leben.
Thomas hat recht, denke ich und berühre meinen bloßen Nacken, wo früher gebleichte blonde Haare gewesen sind. Wenn jemand ein Foto von mir machen würde und es mir zeigte, würde ich mich dann überhaupt selbst erkennen?
Ich kann mich nicht dazu überwinden, schon in die Metro zu steigen und zur Schule zu fahren. Ob ich jemanden anrufen, jemandem mein Herz ausschütten soll, dass Thomas gerade mit mir Schluss gemacht hat? Aus irgendeinem Grund ist die Vorstellung, es Zack oder Alex zu erzählen, furchtbar. Beide würden nur mit der Zunge schnalzen und alles daransetzen, mir sämtliche grauenvolle Einzelheiten zu entlocken.
Einmal hat Alex zu mir gesagt, obwohl Vince und ich damals sogar schon auseinander waren, wie es eigentlich käme, dass sie keinen Freund hätte und ich gleich zwei tolle? Danach hatte ich natürlich keine Lust mehr, Alex auch nur irgendetwas in Bezug auf die beiden oder einen der beiden
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