Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
Winchester und dann sollst du nicht nur ein warmes, sondern auch ein hübsches Kleid haben«, sagte Winston wie ein stolzer Vater. »Emily wird die Bahnen zurechtschneiden und dir das Kleid nähen! Na, gefällt dir der Stoff?«
»Er ist ganz wunderbar!«, rief Becky und hatte Tränen in den Augen. Wann hatte sie das letzte Mal ein Geschenk erhalten, ganz zu schweigen von einem so wunderschönen? Sie konnte sich nicht erinnern.
Und in dem zweiten Päckchen waren eine Schreibfeder und eine kleine Schreibmappe, deren bunte Pappdeckel am Rücken mit einem Stoffband zusammengeleimt waren. In der Mappe lagen zwei Dutzend Briefbögen mit passenden Umschlägen.
Winston strahlte sie an. »Damit du mich nicht mehr nach Feder und Papier fragen musst, wenn du deinem Bruder schreiben willst. Jetzt hast du deine eigene Briefmappe!«
Becky wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen vor Freude und Dankbarkeit. Sie hielt sich wegen Emily, die von derlei Gefühlsausbrüchen nichts hielt, zurück und benügte sich mit artigen Worten des Dankes an sie beide.
»Dann lasst uns jetzt frühstücken«, sagte Emily auf ihre nüchterne Art. »Denn auch wenn du heute Geburtstag hast, wartet doch viel Arbeit auf uns!«
Winston ließ es dennoch ruhiger angehen als an anderen Wochentagen, und als sie am Nachmittag Süßkartoffeln ausmachten, bereitete er Becky sogar die große Freude, gleich dort auf dem Acker ein kleines Feuer zu entfachen und einige der frischen Süßkartoffeln, die sie auf angespitzte Stöcke aufspießten, über den Flammen zu rösten und mit ihr zu verzehren. Sie schmeckten einfach köstlich. Einen schöneren Geburtstag hätte sie sich nicht wünschen können. Nur dass Daniel nicht bei ihr war, mischte einen Wermutstropfen in die Freude dieses Tages. Aber sie hatte immerhin einen Brief von ihm, den sie sich bis zum Abend aufbewahrte.
Das größte Geschenk jedoch war weder der wunderbare Stoff noch die Schreibmappe mit der Feder oder Daniels Brief, sondern das, was Emily nach dem Abendessen zu ihr sagte, als sie ihr erklärte, welcher Schnitt ihr vorschwebte und wie ihr Kleid aussehen würde.
»Ich kann es mir noch gar nicht richtig vorstellen«, gestand Becky. »Aber ich bin sicher, dass es ein wunderschönes Kleid wird.«
»Worauf du dich verlassen kannst!«, versicherte Emily, und während sie Becky den gerafften Stoff vor die Brust hielt und den Kopf ein wenig auf die Seite legte, als sähe sie sie vor ihrem geistigen Auge schon in dem fertigen Kleid, fuhr sie versonnen und mit ungewöhnlich weicher Stimme fort: »Wer dich nicht kennt, wird dich nicht für unsere Tochter, sondern für meine kleine hübsche Schwester halten, so erwachsen wirst du darin aussehen.«
Diese Worte hatten auf Becky geradezu die Wirkung eines Blitzschlages. Emily hatte sie nicht nur »unsere Tochter« genannt, was ihr bisher noch nie über die Lippen gekommen war, sondern sie auch als hübsch bezeichnet und geäußert, dass sie sogar als ihre jüngere Schwester durchgehen könnte! Und das nach so vielen Monaten kühler Zurückhaltung!
Becky hatte das wunderbare Gefühl, als hätte Emily sie mit ihren Worten gewissermaßen umarmt.
»Aber lass dir das ja nicht zu Kopf steigen!« Emilys Ermahnung kam schon im nächsten Augenblick, hastig und auf ihre gewohnt schroffe Art. Schnell wich sie Beckys freudestrahlendem Blick aus und wandte sich von ihr ab, um den Stoff wieder zusammenzulegen.
Aber so geschäftig sich Emily nun auch gab und sosehr sie dabei jeden Blickkontakt mit ihr vermied, so blieb Becky doch nicht verborgen, wie verlegen sich Emily ob ihrer Worte fühlte. So als hätte sie aus ihrem Innersten etwas preisgegeben, was dort zu ihrem Selbstschutz hätte verborgen bleiben sollen - und dessen impulsives Bekenntnis sie nun selbst überraschte.
Als Becky an diesem Tag das Licht in ihrer Kammer löschte und mit müden Gliedern vor ihrem Bett zum Nachtgebet niederkniete, drängte sich so vieles in ihre Gedanken, wofür sie im Gebet danken wollte. Zum ersten Mal, seit Winston sie auf die Farm der Newmans am Deer Creek gebracht hatte, erfüllte sie das wunderbar sichere und von keinen Zweifeln getrübte Gefühl von wirklicher Geborgenheit und einem wahren Zuhause. Emilys scheinbar schroffe Art konnte sie von nun an nicht mehr schrecken, hatte sie an diesem Tag doch einen Blick in ihr wahres Ich, ihr Herz werfen können.
44
N ACH den arbeitsreichen Wochen der Erntezeit betrat Becky in Winchester zum ersten Mal seit mehr als fünf
Weitere Kostenlose Bücher