Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
nicht behaupten kann!«
Damit traf er bei ihr einen wunden Punkt. Denn sosehr sie sich auch bemühte und sich die Füße wund lief, um wieder als Näherin arbeiten zu dürfen, so erfolglos blieben doch all ihre Anstrengungen. Aber auch wenn sie jemanden hätte erweichen können, wo hätte sie die Näharbeit anfertigen sollen? In dem fauligen, dunklen Keller mit seinen von Schimmelpilz befallenen Wänden vielleicht? Unmöglich! Sie hätte mehr Geld für Kerzen ausgeben müssen, als sie an Lohn für ihre Arbeit bekommen hätte!
Um wenigstens einige wenige Cent zu verdienen, machte sie es schließlich jenen vielen Mädchen und Frauen nach, die überall in der Stadt auf Straßen und Hinterhöfen den Abfall nach Lumpen und langem, ausgebürstetem Haar durchwühlten. Das gesammelte Haar brachte sie zur Hintertür eines Perückenmachers auf der Bowery, der dafür zwar genauso wenig bezahlte wie die Verwerter von Lumpen auf der Canal Street. Aber zusammen mit dem erbärmlichen Verdienst, den Daniel mit seinen Streichholzschachteln erzielte, brachten sie doch genug zusammen, um sich nicht in die langen Schlangen bei der Mission oder den Suppenküchen der Quäker um eine Armenspeisung einreihen zu müssen. Denn darauf zu hoffen, dass der Vater seiner Verantwortung nachkam und sie vor Hunger bewahrte, erwies sich mit jeder Woche mehr als vergeblich. Er glitt in jene Haltlosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Schicksal zurück, die sie um ihre Wohnung in der Mulberry Street gebracht und in die Kellerabsteige von Missis Sullivan geführt hatten. Im Juni geschah es sogar einige Male, dass er nicht mehr einen Cent in der Tasche hatte oder zumindest doch vorgab, kein Geld zu haben, sodass Becky und ihr Bruder dem Verwalter die vier Cent für die Nacht zahlen mussten.
Becky verbrachte in jenen Wochen viel Zeit auf der Bowery Street, die sich vom Chatham Square mehrere Meilen in nördlicher Richtung erstreckte, und dem dazugehörigen Viertel. Was der vornehme Broadway mit seinen eleganten und sündhaft teuren Geschäften, Clubs, Restaurants und exquisiten Hotels für die Wohlhabenden und Reichen der Stadt darstellte, war die Bowery für das einfache Volk. Hier schlug das Herz der Arbeiterklasse, und in welch einem aufregend lebendigen Rhythmus! Auf der Bowery, die als eine eigene Stadt in der Stadt galt, strömten die Massen, die aus allen Teilen New Yorks kamen, von morgens bis spät in die Nacht über die Bürgersteige und unter den Arkaden entlang, vorbei an unzähligen Läden, Werkstätten, Wirtshäusern, so genannten Coffee & Cake Saloons, Tanzhallen, kleinen Theatern und anderen Amüsierbetrieben. Dazu gesellte sich eine nicht abreißende Kette von fahrenden Händlern sowie besonders rund um den Paradise Square ein buntes Gemenge von Straßenmusikanten, Artisten und fantasiereichen Unterhaltungskünstlern wie Jongleuren, Fakiren, Entfesselungsakrobaten, Schlangenmenschen, Komödianten sowie Schwert- und Feuerschluckern, die von den Münzen lebten, die Passanten ihnen für ihre Darbietung in ihre Hüte oder Bastkörbe warfen. Ganz besonderer Beliebtheit erfreuten sich auf der Bowery die riesigen deutschen Bierhallen wie das Atlantic Garden und das Volks Garden, in deren Irrgärten von verwirrend vielen, weitläufigen Räumen man sich leicht verlaufen konnte. Dort gab es gleich mehrere Theken sowie Kegelbahnen, Billardzimmer, Schießstände, einen Boxring für die Faustkämpfer, die ohne Handschuhe aufeinander losgingen, und Räume, in denen dem Kartenspiel gefrönt wurde. Auch spielten in den Bierhallen Blasorchester und andere Kapellen zur Unterhaltung der Gäste auf. Hierhin ging man mit seinen Freunden oder mit seinem Mädchen, um für einige Stunden des Vergnügens den harten Alltag zu vergessen.
In diesem Viertel gaben die stadtweit ebenso berühmten wie berüchtigten Bowery Boys den Ton an, bei denen es sich - anders als ihr Name vermuten ließ - nicht um Halbwüchsige, sondern überwiegend um erwachsene Männer handelte. Sie regierten unangefochten über diese heftig pulsierende Lebensader und ihre angrenzenden Straßen. Wenn man ihnen auf der Straße begegnete, erkannte man die Bowery Boys, die sich auch einen ganz besonderen, schwingenden Gang angeeignet hatten, leicht an ihren hohen schwarzen Seidenhüten, die ganz gerade auf ihren Köpfen mit dem gut geölten Haar saßen, an ihren Halstüchern, die nach Seemannsart gebunden waren, den modischen, blumengemusterten Seidenwesten, den schwarzen Überröcken
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