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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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»Lass, Mutter, das verstehst du nicht. Du, und auch Johannes, ihr seid aus einem anderen Holz geschnitzt. Ich muss das tun, was ich für richtig halte!«
    Und so ging er an diesem Sommermorgen zum ersten Mal wieder zum Sägewerk, zwar noch nicht ganz gesund, aber gestärkt und belebt von dem Essen, das ihm Lisbeth Dederer geschickt hatte. In der Hosentasche raschelten immer noch die Zettel und schon oben an der Enzbrücke hörte er den kreischenden Ton der Gattersäge. Viel zu tief, dachte er missbilligend, viel zu tief. Das Sägeblatt ist nicht richtig gespannt. Krummschnitt gibt das, der ganze Stamm wird versaut. Höchste Zeit, dass ich zurückkomme! Ach, zurückkommen – ein anderes Zurückkommen war ungleich wichtiger. Übermorgen würde Johannes wieder zu Hause sein. In der Stadtmühle, auf dem alten, wurmstichigen, wackligen Küchentisch, lag der Brief, schon ganz abgegriffen und fleckig, weil die Stadtmühlenleute ihn immer wieder in die Hand nahmen und lasen, als könnten sie die Nachricht nicht fassen, als sei dieser Brief ein gutes Omen in dieser bösen Zeit, die nun doch einmal zu Ende gehen musste.
    Genesungsurlaub habe er bekommen, stand da und die Ahne hatte zuerst entsetzt die Hände zusammengeschlagen und aufgeschrien. Ob er denn um Himmels willen wieder fortmüsse, zurück in diesen verfluchten Krieg. Aber Friedrich hatte abgewinkt. »In ein paar Wochen gibt es keinen Krieg mehr.« Dabei war ihm selbst nicht wohl gewesen, am Ende brachte es dieses Lumpengesindel in Berlin noch fertig, den Krieg in die Länge zu ziehen, denn die, die sich an ihm mästeten, waren einflussreiche Leute. Aber Johannes gehe sowieso auf keinen Fall mehr zurück, mit dem kaputtgeschossenen Arm. Johannes war gerettet, auch Emma war gerettet und die Mutter war gesund geblieben, bald hatten sie es geschafft!
    Friedrich war es so vorgekommen, als habe ihn das Schicksal höchstpersönlich ausgezeichnet, ihm einen Wink gegeben, dass all seine Pläne gut waren und dass er auf dem richtigen Wege sei! An diesem Morgen hatte er sich vorgenommen, endlich zum Dederer zu gehen. Er musste sich bedanken, und wenn er ihn in guter Stimmung vorfand, nicht zu nüchtern und nicht zu betrunken, würde er ihm die Zettel zeigen.
    Der kreischende Gesang der Gattersäge fuhr ihm durch Mark und Bein und er beschleunigte seine Schritte. »Viel zu tief«, flüsterte er, »viel zu tief.« Und dann fügte er hinzu, beschwörend und sich selber Mut machend: »Nachher rede ich mit dem Dederer. Es geht voran!«

23
     
    Johannes breitete vorsichtig seine Habseligkeiten auf dem schmalen Feldbett aus. Viel war es wahrlich nicht, was er einpacken konnte. Von seinen eigenen Sachen war nur das schmale, abgegriffene Büchlein übrig geblieben, das er in der Tasche seiner blutdurchtränkten Uniformjacke wiedergefunden hatte. Aber das war das Wichtigste: Das Taugenichts-Büchlein war ihm geblieben. Die anderen Sachen waren verloren gegangen, man hatte schließlich Wichtigeres zu tun, als nach dem Tornister des Gefreiten Johannes Helmbrecht vom achten Königlich Württembergischen Infanterieregiment zu suchen. Viel war auch das nicht gewesen. Das Einzige, was ihn wirklich schmerzte, war der Verlust seiner Zeichnungen, Bilder von der Ahne, den Mädchen und Friedrich, die er mitgenommen hatte.
    Anfangs hatte er gemeint, auch im Feld zeichnen zu müssen, so, als sei es seine Pflicht als Chronist zu wirken und festzuhalten, was sich seinen Augen bot, aber er konnte es nicht. Er konnte dieses Grauen nicht malen, es war ihm nicht möglich. Obwohl diese Szenarien des Todes zur gewohnten alltäglichen Routine wurden, gab es Windungen seines Gehirns, die sich weigerten, das, was er sehen musste, auch wirklich aufzunehmen. Dabei war es die Wahrheit, und man musste sie festhalten, weil es einem die Leute nicht glauben würden, weil man es sicher vergessen wollte. Aber das durfte nicht sein, schon um der vielen Toten willen, die ihn in seinen nächtlichen Träumen aus leeren Augenhöhlen anstarrten; und trotzdem – wie eine unsichtbare Wand stand da etwas zwischen ihm und den Bildern und es half ihm zu überleben!
    Friedrich hatte recht gehabt, das Wahre ist nicht immer das Schöne, das Wahre ist das Hässliche, das Wahre ist der Tod, der allgegenwärtige, wahr sind die blutigen Arm- und Beinstümpfe, über die man achtlos hinwegtrampelt, wahr ist der graue Brei, der aus den zerschossenen Schädeln quillt.
    Wahr sind die Ratten, die ungeheuren Mengen von Ratten, die über

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