Beerensommer
dich kriechen, und die Schwärme grüner Fliegen, die dich einhüllen, dass du glaubst, du musst ersticken. Wahr ist der Gestank der Verwesung, der über allem liegt.
Wie sollte er das zeichnen? Manchmal glaubte er, dass er gar nicht mehr fähig war zu malen, weil er nicht glauben konnte, dass es noch Schönheit und Glück gab.
Schönheit, Glück, immer wieder sagte er sich diese Worte vor, ließ sie auf der Zunge zergehen, als spüre er ihnen nach wie einem guten Essen, an dessen Geschmack man sich unbedingt noch einmal erinnern wollte.
Schönheit, Glück – was war das? Der Katzenbuckel im sommerlichen Licht, der würzige Geruch des Waldes und das helle Lachen der Kinder unten am Bach auf der Auwiese. Immer wieder beschwor er diese Bilder herauf, aber es gelang ihm nicht, sie festzuhalten. Die anderen Bilder schoben sich darüber, waren mächtiger und er fürchtete in solchen Momenten wirklich, dass er nie mehr malen könnte, nie mehr.
Von diesen Gedanken teilte er niemandem etwas mit, auch nicht Paul Pacholke, der ihm in diesen Tagen zu einem guten Kameraden geworden war. Der Verband bedeckte jetzt nur noch den linken oberen Teil seines Gesichts, man konnte jetzt ungefähr erahnen, was das einmal für ein Gesicht gewesen war. Ein gutes Gesicht, hatte Johannes spontan gedacht, als er das erste Mal Paules unverletzte Gesichtspartie gesehen hatte. Das war ein gutes Gesicht, breit, mit einer flachen Stirn, in das ein paar weizengelbe Haarsträhnen fielen, und das eine Auge, hellgrün, hatte ihm verschmitzt zugeblinzelt.
»Da, guck mal, was ich für ein fescher Kerl war«, hatte Paule grinsend gesagt. »Hab einen schweren Schlag bei den Mädels gehabt. Jetzt muss ich reich werden, denn wegen meiner Schönheit nehmen sie mir nicht mehr«, und dabei hatte unter dem Lachen wieder die Verzweiflung durchgeklungen, eine Verzweiflung, die nur zu berechtigt war angesichts dieses Lebens, das ihm nun bevorstand. Aus einem kleinen Nest in Ostpreußen war er gekommen, hatte er Johannes erzählt, und nach Berlin gegangen, als der Erste aus einer langen Reihe von Pacholkes, die als Landarbeiter auf einem der großen Gutshöfe gearbeitet und gelebt hatten.
»Immerzu Schweine füttern, auf dem Feld malochen bis zum Umfallen und abends Kartoffeln mit ein bisschen Stippe, das war mir auf Dauer zu langweilig! Da in der Stadt, hab ich mir gedacht, da gibt’s ein Vorwärtskommen ...« Und schlecht sei es nicht gewesen, wenngleich das Vorwärtskommen nur in einer kärglich möblierten Bude bestanden hatte, die er sich mit zwei anderen teilen musste. Und aus der Arbeit als ungelernter Arbeiter, was auf eine andere Art auch wieder malochen bis zum Umfallen bedeutete. Aber immerhin war er bei Siemens gelandet, darauf war er stolz, der Paul Pacholke, und immerhin gab es Mädels in der Stadt. »Nicht solche wie bei uns im Dorf, mit Zopf und Kattunschürze, nee, richtig fesche Mädels, so mit Hütchen auf dem Kopf, und gut gerochen haben sie und man konnte seinen Spaß haben.« Flott habe er gelebt, hatte er Johannes erzählt und der glaubte ihm das gerne, denn er hatte sicher mit seinen lockeren Sprüchen und seiner gewinnenden, freundlichen Art bei der einen oder anderen einen »Schlag gehabt«.
Aber dann war noch etwas anderes in Paules Leben getreten, etwas, das ihm neben den Mädels und dem gelegentlichen Bier und der Erbsensuppe bei »Aschinger« eine weitere Vorstellung von einem möglichen guten Leben vermittelt hatte. Es war sogar noch viel mehr, Paule hatte plötzlich eine Perspektive, Paule hatte einen Traum, davon hatte er Johannes mit einer geradezu kindlichen Begeisterung erzählt. Der hatte ihn gleich verstanden, hatte sich sofort an die erste Lektüre des »Taugenichts« erinnert, an seinen Traum vom richtigen Leben. Als er aber Paule davon erzählen wollte, hatte der nur verächtlich abgewinkt.
»Was willste denn mit dem Dichterkram! Du musst das realistisch sehen, Mensch. Politisch musste det sehen! Eines sag ich dir, Jungchen, wenn die Scheiße hier vorbei ist, besuchst du mich in Berlin. Dann gehen wir in eine Versammlung. Wenn Rosa spricht, also ich sag dir, Jungchen, da gehen dir die Ohren auf! Dann kapierst du erst, um was es wirklich geht.«
Von dieser Rosa Luxemburg sprach Paul Pacholke immerzu, er sprach von ihr mit einem Respekt und einer Bewunderung, die Johannes seltsam anrührte. Was sollte man von einer Frau halten, die in rauchigen, biergeschwängerten Sälen, voll mit Männern, öffentlich auftrat und
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