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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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sprach? Wollte man Paule glauben, war sie blitzgescheit und mutiger als die gesamte Oberste Heeresleitung.
    »Dabei geht sie mir gerade bis hierher«, und Paule deutete stets auf einen imaginären Punkt unterhalb seines Brustkorbs, was Johannes reichlich übertrieben vorkam. »So ’ne Kleene ist das. Manchmal steht sie auf der Bühne noch extra auf einem Stuhl, damit man sie überhaupt sieht. Aber wenn sie dann loslegt, Jungchen, ik sage dir!« Was Rosa mitzuteilen hatte, legte ihm Paule immer wieder dar. »Bei ihr klingt’s ein bisschen komplizierter, aber was in meinen kleinen Kopp reingeht, das verstehst du auch.«
    Besitz und Kapital waren laut Rosa Luxemburg die Ursache allen Übels. Ein anderer hatte das schon lange vor ihr so dargelegt und aufgeschrieben, ein gewisser Karl Marx sei das gewesen, hatte Johannes erfahren.
    »Ist doch klar, Jungchen«, hatte Paule gemeint, »wer was hat, will noch mehr, immer mehr. Holen tut man’s bei den Kleinen, die müssen malochen, schuften müssen die, bis zum Umfallen. Haste dir schon mal überlegt, warum die feinen Pinkel alles haben, von allem sogar viel zu viel haben und unsereiner kriegt nicht mal seinen Bauch voll? Rosa sagt, das sei so im Kapitalismus, das sei ein ungeschriebenes Gesetz, und sie sagt auch, dass wir deshalb den Krieg führen! ›Die Völker Europas zerfleischen sich gegenseitig, ganze Länder werden verschachert‹, hat sie geschrieben, ich hab’s gelesen und noch etwas anderes, das ist mir nie mehr aus dem Kopp gegangen, dass die Arbeiter ›aus einem Teig gebacken sind‹, egal wo sie herkommen. Und wenn ich dann im Schützengraben gehockt und mir den Arsch abgefroren habe oder mich im Sommer die Mücken halb tot gestochen haben, musste ich immer daran denken, dass der auf der anderen Seite, irgendeiner, der auch friert und Schiss hat, doch eigentlich mein Kumpel ist. Was sollen wir uns totschießen? Wofür denn? Der will doch auch nichts anderes als ich, arbeiten gehen, gelegentlich sein Bierchen zischen, nach den Mädels gucken und irgendwann mal heiraten, Kinder haben, denen es dann besser gehen soll. Aus einem Teig, hat Rosa gesagt, und dass es nicht unser Krieg ist. Daran hab ich immer gedacht, als ich sie alle um mich herum verrecken gesehen habe! An Weihnachten sind immer wieder welche rübergekommen von den Franzmännern. War ja Waffenruhe, wir haben Zigaretten getauscht und Bilder gezeigt und Schnaps gesoffen und am Schluss haben wir alle geheult, bis die Offiziere gekommen sind, diese schneidigen Bubis mit den schnieken Uniformen, und uns auseinander gejagt haben. Die sind nicht aus unserem Teig gemacht, Jungchen, hocken im warmen Zimmer und fressen ihre Sonderrationen und ziehen die Köpfe ein, wenn’s knallt ...« Und so ging es weiter und Johannes hörte zu, hörte schweigend zu, denn vom Politischen verstand er nichts, aber er saugte die Worte auf, dachte viel über sie nach, drehte und wendete sie sozusagen, wenn er nachts schlaflos zwischen den wimmernden, keuchenden, weinenden, sterbenden Männern lag.
    »Aus einem Teig gemacht«, das gefiel ihm. War nicht der allgegenwärtige Tod der größte Gleichmacher? Vielleicht hatte Paule wirklich recht. Er musste unbedingt mit Friedrich darüber reden.
    Daran dachte er jetzt auch, als er auf dem schmalen Feldbett saß, den Tornister mit dem bisschen Gepäck zwischen den Beinen, und Paule ihm gegenüberhockte und redete und redete, weil er wohl den dicken Klumpen runterkriegen musste, der ihm in der Kehle steckte. »Wirst mir fehlen, Jungchen!«
    Er ereiferte sich wie so oft am Ende seiner langen Tiraden über die Sozis, die er gewählt hatte und die die Sache der Arbeiterklasse verraten hatten, weil sie nämlich Geld für diesen Krieg bewilligt hätten. Johannes hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Das alles kannte er schon; Paules bittere Ausfälle gegen die »sumpfige Froschgesellschaft«, wie er sie nannte.
    Johannes dachte vielmehr daran, dass er das anderen Leuten erzählen musste, das, was Paule ihm erklärt hatte, und das, was er im Krieg erlebt hatte. Seit vielen Tagen stellte er sich vor, dass einer seiner ersten Wege ihn zum Herrn Oberlehrer Caspar führen würde. Es war natürlich ein Gebot der Höflichkeit, des Anstandes, nachdem Caspar so viel für ihn getan hatte. Immer wieder hatte er sich an die scheue, verlegene Handbewegung erinnert, mit der ihm Caspar das Geld in die Hand gedrückt hatte, das dringend notwendige Geld für die Fahrt nach Pforzheim, ausgehändigt bei den

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