Beerensommer
Entschlossenheit demonstrieren.
Diese Aktentasche, sie war ein Geschenk von Friedrich gewesen, nach der Gesellenprüfung, die er als Jahrgangsbester abgeschlossen hatte. Sie war aus weichem braunen Leder und er hatte sie damals einige Minuten fassungslos angestarrt. So etwas Schönes hatte er noch nie besessen. »Du bist ja verrückt«, hatte er gekrächzt und dann den Freund heftig umarmt. »Die ist doch viel zu teuer«, hatte er fast vorwurfsvoll gesagt, aber Fritz hatte nur abgewinkt und gesagt: »Lass nur. Hab ein paar Überstunden gemacht. Und der Großvater hat mir etwas Extrageld vermacht – speziell mir. Ist meine Sache, was ich damit mache, das Geld wird sowieso immer weniger wert.«
Damit hatte er recht gehabt. Die Preise stiegen ständig und die Leute raunten sich zu, wenn es so weitergehe, dort im fernen Berlin, dann sei das Geld bald gar nichts mehr wert.
»Trotzdem«, Johannes hätte damals vor lauter Rührung fast geheult, »trotzdem, Friedrich. So etwas Wertvolles für mich, das habe ich doch gar nicht verdient!«
Friedrich hatte wortlos seine Hand gedrückt. Johannes war damals noch eine andere Idee gekommen und er musste lächeln, als er Friedrich darauf ansprach. »Jedenfalls weiß ich genau, wie ich mich revanchieren kann!«
»Was meinst du?«
»Schuhe. Ich kaufe dir ein paar Schuhe! Damit liegt man bei dir doch immer richtig.«
Friedrich hatte in sein Lachen eingestimmt, aber Johannes war plötzlich unbehaglich zu Mute gewesen. Er hatte einen merkwürdigen Unterton herausgehört. Wie hatte er Trottel nur daran rühren können! Schuhe – Friedrichs große Schwäche, wie er selbst freimütig eingestand. Jedoch war daran immer die Erinnerung verknüpft an die Zeit, in der ein Friedrich Weckerlin barfuß gehen musste.
Vielleicht erzähle ich Friedrich doch davon, dachte Johannes, als sich der Zug ruckelnd in Bewegung setzte. Wenn es klappt, wenn sie sich mit mir verabredet, erzähle ich ihm davon, vielleicht kann er mir helfen, was ich sagen soll und wie ich es am besten anstelle. Ich bin doch so dumm in diesen Dingen.
Als der Zug in Hofen einfuhr, stand er auf und öffnete das Fenster, trotz des Protestes einer älteren Frau aus Grunbach, die ihm gegenüber Platz genommen hatte. Nach Pforzheim, zum Augendoktor müsse sie, hatte sie ihm leutselig erzählt; mit dem Sehen werde es immer schlechter und sie müsse doch auf die Enkel aufpassen, denn die Tochter gehe zum Tournier, zum »Schaffen«. Der Schwiegersohn, der arme Kerl, sei nicht mehr aus dem Krieg heimgekommen. Johannes beruhigte sie, er schließe das Fenster gleich wieder, er müsse nur nach jemandem Ausschau halten.
Tatsächlich, sie stieg in das Nachbarabteil ein, für einen Moment hatte er gefürchtet, sie könnte krank sein oder sich freigenommen haben. Aber sie war da, so hübsch anzusehen in ihrer weißen Bluse und der schwarzen Jacke, ein kleines Hütchen hatte sie leicht schräg auf das dichte, glänzende, nussbraune Haar gesetzt.
Heute Mittag also würde er es wagen! Und heute Abend stand ebenfalls noch etwas Wichtiges an. Er würde sich mit den Genossen im »Bräukeller« treffen! Es handelte sich um ihre regelmäßige monatliche Versammlung, aber heute sollte eine wichtige Entscheidung fallen. Die Grunbacher Genossen wollten eine eigene Ortsgruppe gründen. Über zehn Leute gehörten in der Zwischenzeit der Partei an. Ältere, die 1918 den Grunbacher Arbeiter- und Soldatenrat gegründet hatten, der dann so schmählich abgesetzt worden war, und auch einige Jüngere, in Johannes’ Alter, die den Krieg mitgemacht hatten. Viele von ihnen arbeiteten wie Johannes in Pforzheim. Sie einte der brennende Wunsch, der Krieg könne doch nicht völlig umsonst gewesen sein, und wie Johannes empfanden sie eine heillose Wut darüber, dass die, die vom Krieg profitiert hatten, unbehelligt weiter ihren Geschäften nachgehen konnten.
»Und die Mörder von Rosa und Karl und den anderen Genossen laufen immer noch frei herum, eine Schande ist das!«, hatte der Hermann Rau aus Grunbach beim letzten Treffen unter dem lauten Beifall der anderen Genossen gerufen. Aber die Partei werde stärker und den Leuten ginge es nach dem Krieg immer schlechter. Und die im Grunbacher Gemeinderat, in dem immer noch ganz bestimmte Leute den Ton angaben, die würden sich bald sehr wundern!
Irgendwie gibt es im Leben besondere Tage, solche, in denen sich plötzlich viel entscheidet, dachte Johannes. Kann gut sein, dass dies heute so ein Tag in meinem Leben
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