Beerensommer
erkennen.
»Johannes, du!«, rief er mit unterdrückter Stimme, der die Erleichterung anzumerken war. »Wo um Himmels willen kommst du denn her?«
»Aus Pforzheim«, beschied ihm Johannes kurz und bündig.
»Ach, du bist gelaufen. Menschenskind, mitten in der Nacht!«
Johannes hörte wohl den Vorwurf aus der Bemerkung des Freundes heraus, denn er sagte beschwichtigend: »Ich wäre gern mit dem Zug gefahren, aber die Versammlung hat so lange gedauert und der letzte Zug war schon weg.«
»Warst also wieder bei den Genossen. Die Rotfront traulich vereint beim Bier! Und, wann fängt die Revolution an?«
Johannes war den Spott des Freundes schon gewohnt, deshalb ging er auf diese Bemerkung gar nicht ein. »Wir haben eine Grunbacher Ortsgruppe gegründet«, sagte er stolz. »Der Rau, der Maier, der Schwerdtfeger und noch ein paar andere; die sind übrigens mitgelaufen, der Oskar hat sich gerade erst von mir verabschiedet.«
»Eine Grunbacher Ortsgruppe!« Friedrich schien das zu amüsieren, so wie er sich auch weigerte, Johannes’ Aktivitäten in der kommunistischen Partei allzu viel Gewicht beizumessen. »Da werden sie aber zittern, der Zinser und der Tournier! Bald weht die rote Fahne über Grunbach.« Plötzlich wurde er ernst. »Herrgott, Johannes! Wann hörst du endlich auf mit diesem Quatsch? Bloß weil dir der Berliner Kamerad diesen Floh ins Ohr gesetzt hat und du dich irgendwie verpflichtet fühlst, weil er umgekommen ist.«
»Lass, Friedrich, ich habe keine Lust, mich mit dir heute Nacht darüber zu streiten. Es kommt sowieso nichts dabei heraus.« Johannes zögerte etwas. »Ich muss dir etwas ganz anderes erzählen, etwas sehr Schönes!«
Sie hatten in der Zwischenzeit ihren Weg gemeinsam fortgesetzt, bei diesen Worten aber blieb Friedrich stehen und versuchte dem Freund ins Gesicht zu sehen.
»Da bin ich aber gespannt! Obwohl, lass mich raten, es wird doch nicht ...«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, unterbrach ihn Johannes ungeduldig. »Kurz und gut, ich hab ein Mädchen kennengelernt – und sie will sich mit mir treffen. Morgen schon!«, fügte er trotzig hinzu, als wollte er damit jedem Zweifel an seiner Behauptung vorbeugen.
»Da soll mich doch ...!« Friedrichs Verblüffung war echt. »Du alter Heimlichtuer! Aber erzähl, wer ist es? Kenne ich sie? Und überhaupt ...«
»Und überhaupt gibt’s gar nicht viel zu erzählen. Ich kenne sie noch gar nicht richtig, sie fährt jeden Morgen im selben Zug«, fügte Johannes zögernd hinzu. »Heute in ihrer Mittagspause habe ich sie eingeladen, für morgen Abend oder vielmehr heute Abend, und sie hat gleich zugesagt.« Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Friedrich musste unwillkürlich grinsen. Johannes, sein Johannes, dieses Mondkalb, hatte tatsächlich eine Verabredung mit einem Mädchen, und das ganz ohne sein Zutun. Da musste es aber mächtig eingeschlagen haben. Er bedrängte den Freund weiter mit Fragen, aber Johannes wich immer wieder aus.
»Kannst du mir deine neue Krawatte borgen, du weißt schon, die mit den roten und blauen Querstreifen? Die würde gut zu meiner Jacke passen.«
»Ist doch klar. Und ich komme höchstpersönlich vorbei, um dich fein zu machen. Ich würde dir sogar meine neuen Schuhe borgen, die braunen mit den weißen Ziernähten. Aber du mit deinen Mädchenfüßen ... Obwohl, wenn du sie ausstopfst?«
Lachend wehrte Johannes ab. Er wolle doch nicht als Papagei auftreten. In der Zwischenzeit waren sie vor dem Haus angekommen, in dem die Weckerlins das Dachgeschoss bewohnten. Unwillkürlich dämpften sie ihre Stimmen, um niemanden aufzuwecken.
»Wo willst du denn mit ihr hingehen? Vielleicht komme ich sogar auf einen Sprung vorbei, muss mir die Dame doch anschauen.«
»Fritz, das tust du bitte nicht!« Johannes’ Stimme klang bittend. »Lass mich das machen, auf meine Weise. Hörst du, Fritz?«
Friedrich war erstaunt. Was war denn nur los mit Johannes?
Sie sagten sich Gute Nacht und dann ging Johannes die paar Schritte hinüber zum Haus der Witwe Bott.
Friedrich betrat den dunklen Flur. Der vertraute Geruch nach Bohnerwachs und Kampfer empfing ihn. Er sog ihn tief ein, diesen Geruch nach Ehrbarkeit und Langeweile. Auf Zehenspitzen schlich er die Stufen hoch. Jedes Mal kam es ihm so vor, als sei es auch ein Hinaufgehen in anderem Sinne: Sie hatten es aus der Stadtmühle geschafft und es würde weitergehen, ganz nach oben! Und Johannes hatte ein Mädchen! Wer hätte das für möglich gehalten?
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