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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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hatte einen dick mit Zucker bestreuten Napfkuchen gegeben, mit echtem, richtigem Kaffee, ein Geschenk vom Fräulein Dederer, wie Frau Weckerlin etwas verlegen erzählt hatte. Natürlich war auch Johannes eingeladen gewesen. Er solle sein Mädchen mitbringen, hatte ihm Frau Weckerlin gesagt, sie sei fast beleidigt, dass er sie noch nicht vorgestellt habe.
    So war er also tatsächlich mit Marie gekommen an diesem trüben Oktobertag, an dem die Dunkelheit früh hereingebrochen war, weil schwarze, schwere Regenwolken schon den ganzen Tag über dem Enztal hingen. Direkt vom Bahnhof waren sie gekommen und Marie hatte Schokolade überreicht, etwas verlegen war sie gewesen und Emma hatte dann Kaffee über ihren grauen Kostümrock geschüttet, natürlich absichtlich, das weiß Gretl noch genau. Ganz verschüchtert hatte Marie auf dem äußersten Rand des Kanapees neben Frau Weckerlin gesessen – und dann war die Tür aufgegangen und Friedrich war hereingetreten!
    Er stand plötzlich im Zimmer und es war so wie immer, wenn er hereinkam: »Er füllt den ganzen Raum«, hatte Johannes immer gesagt. Die kleine Gretl, damals zehn Jahre alt, hatte aber noch etwas anderes empfunden in diesem Augenblick: Es war diese Aura der Männlichkeit, die von Friedrich ausging. Damals hätte sie es nicht zu erklären gewusst, heute aber ist dieses Bild oder vielmehr diese Augenblicksempfindung ganz präsent.
    Wie er dastand, groß, breitschultrig, ein Bild der Kraft. Wie er lachend die Gesellschaft begrüßte und dann war sein Blick an Marie hängen geblieben! Große Augen hatte er gemacht, der Friedrich Weckerlin, sie hatte es damals genau gesehen, er konnte den Blick gar nicht mehr von ihr abwenden. Marie war rot geworden, schaute angestrengt auf die weiße Tischdecke, sah dann scheu wieder auf – und ihre Augen trafen sich, nur für den winzigen Bruchteil einer Sekunde, aber was war das für ein Blick gewesen!
    Später ist Gretl eine Stelle im »Taugenichts« eingefallen, die sie immer besonders gemocht und sich deshalb eingeprägt hat: » ... sah mich an, dass es mir durch Leib und Seele ging.«
    Genau so ist der Blick der beiden gewesen, ganz genau so. Habe ich das damals wirklich schon so empfunden oder hat sich der Gedanke erst später eingestellt, viel später, als das Unglück schon seinen Lauf genommen hat? Und Johannes! Wie er dasaß, etwas verlegen, dennoch strahlend, er war so stolz auf seine Marie, und jetzt trafen die beiden Menschen aufeinander, die ihm am liebsten waren.
    Hatte er damals dennoch schon eine instinktive Furcht verspürt? Immerhin hatte er Marie den ganzen Sommer über praktisch vor Friedrich versteckt. Aber in diesem Moment schien alles gut zu sein und sie hatten noch bis tief in die Nacht gefeiert, denn Friedrich hatte Wein mitgebracht. Friedrich und Marie hatten an diesem Abend kaum miteinander gesprochen. Gretl erinnert sich, dass sie die beiden damals genau beobachtet hat. Wie immer hatte Friedrich die Unterhaltung bestritten, lustig und lebhaft war er gewesen, vielleicht ein bisschen zu lustig.
    Aber seine Augen hatten ihn verraten, immer wieder streiften sie die ihm gegenübersitzende Marie. Das war der Anfang gewesen. Keine schöne Geschichte, die Anna jetzt in Johannes’ Tagebüchern zu lesen bekommt. Gretl seufzt.
    Ein Auto fährt vor. Der Motor wird ausgeschaltet, die Wagentüren schnappen leise ins Schloss. Unterdrücktes Kichern und Wortfetzen dringen an Gretls Ohr. Das sind die jungen Leute. So spät – aber es scheint Anna gefallen zu haben, denn immer wieder hört sie ihr leises Lachen. Vorsichtig macht Gretl die Lampe wieder aus und legt sich zurück. Plötzlich ist es sehr still. Sie hat Anna gar nicht hereinkommen hören! Was machen die beiden bloß so lange vor der Haustür, denkt Gretl. Es wird doch nicht eine neue Geschichte anfangen? Ausgerechnet die beiden, das wäre ja was!

30
     
    Die Sirene hatte gerade eben das Signal für den Feierabend gegeben. Im großen Saal der Uhren- und Goldschmiedefabrik Armbruster herrschte die übliche Unruhe. Die Goldschmiede hatten sich von ihren Tischen erhoben, vorsichtig das Auffangfell für den Gold- und Silberstaub abstreifend. Jetzt kam der spannendste Moment des ganzen Arbeitstages. Der Platz wurde gründlich gesäubert, alle Reste, jedes Körnchen nach vorne zur Materialausgabe, zur Kasse getragen, um dort gewogen zu werden. Wehe, das Gewicht des ausgegebenen Materials stimmte nicht mit dem des Schmuckstücks und der Reste überein, dann musste

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