Beerensommer
Surren an den Tischen wich schreiendem Gebrüll: »Sieg Heil, Sieg Heil ...!« Dann betrat jemand den Raum, aber Friedrich konnte nichts mehr sehen, weil die meisten Leute vor ihm aufgesprungen waren. Nur an der Welle der Bewegung, die durch den Saal lief, dem Drehen der Köpfe mit den weit aufgerissenen Mündern, konnte man erkennen, wo sich dieser Hitler befand. Er schritt zum Rednerpult, endlich war der Blick auf ihn frei und Friedrich war enttäuscht. Dieser schmächtige Mann da vorne sollte also Deutschlands Zukunft sein. Richtig bemerkenswert sah er nicht aus. Das Geschrei verebbte, es wurde ruhiger, ging wieder in dieses zischelnde Summen über und dann begann der Mann am Rednerpult zu sprechen. Friedrich merkte, wie er immer enttäuschter wurde. Neben ihm saß Hobelsberger und gaffte dümmlich, seine Zigarre hing halb erloschen zwischen seinen Fingern.
Diese Stimme, dachte Friedrich, diese Stimme ist so flach und ausdruckslos, was ist nur so Besonderes daran? Dann wurde die Stimme lauter, höher, überschlug sich. Hitler machte Kunstpausen, ließ seine Zuhörer reagieren, es gab prasselnden Beifall, dann immer mehr zustimmendes Gebrüll, heiseres, enthusiastisches Sieg-Heil-Gerufe.
Er spielt mit den Leuten, dachte Friedrich, wie ein Dompteur, hat sie fest im Griff und sie merken es nicht. Von einem widerwilligen Interesse erfasst, lauschte er gespannt dem Redner. Hitler sprach von Deutschlands Schande und Friedrich hörte immer aufmerksamer zu. Hitler redete von der Entehrung des deutschen Volkes und immer wieder von der Schande und Friedrich verstand nur eines – diese Schande wurde plötzlich zu seiner Schande, Deutschlands Schande und Friedrichs Schande wurden eins. Und der Mann da vorne, das spürte er genau, der konnte ihnen helfen, der konnte sie befreien von der Schande!
Am Schluss sprang er auf, wie alle anderen, und applaudierte. Er wusste selber nicht so genau, warum.
»Hab ich’s nicht gesagt«, brüllte ihm Hobelsberger begeistert ins Ohr, »hab ich’s Ihnen nicht gesagt! Guter Mann, genau das, was wir brauchen. Der kann die Massen lenken, weiß genau, wie man’s macht.«
Leider verließ Hitler nach der Rede schnell den Saal, abgeschirmt von der braunen Truppe. Hobelsberger war enttäuscht. »Hätte gern mal ein paar Worte mit ihm gesprochen. Schließlich habe ich eine nicht unbeträchtliche Summe gespendet.«
Sie bekamen dann doch noch einen Platz an einem Tisch mit der örtlichen NS-Prominenz. Ein Herr Hanfstängel, ein Freund Hitlers, den Hobelsberger schon seit Längerem kannte, war anwesend, und auch ein Herr Röhm, ein wohl genährter Herr in SA-Uniform. Am Schluss war die Stimmung sehr aufgekratzt, man redete davon, dass die Machtübernahme unmittelbar bevorstehe, und Friedrich, der betrunken war, hatte einen Scheck für die »Bewegung« übergeben und weitere Unterstützung in Aussicht gestellt.
Er kam spät heim am Abend des nächsten Tages, keine Spur von Lene und Gretl, stattdessen stand Lisbeth oben an der großen Eichentreppe, die in die Eingangshalle führte.
»So spät«, quengelte sie, »so spät wieder. Wo warst du überhaupt? Warst du wieder bei deinen Weibern?«
Friedrich kannte diesen Ton und er hasste ihn, hasste auf einmal auch die dürre Gestalt in Spitzen und Rüschen. Eine Vogelscheuche, dachte er angewidert, eine richtige Vogelscheuche, auch wenn sie in Samt und Seide gehüllt ist. Als er an ihr vorbeiwollte, packte sie ihn am Ärmel. Er betrachtete für einen Moment ihre langen, rot lackierten Nägel, Krallen, die sich in sein Fleisch bohrten, dann schüttelte er sie ab. »Lass mich! Ich bin müde. Im Übrigen war ich in München, auf einer Parteiveranstaltung.«
»Du?« Der dünne Mund blieb für einen Moment offen stehen. »Du auf einer Parteiveranstaltung? Nie im Leben.«
»Dann glaub’s eben nicht.« Er schob sich an ihr vorbei und ging zum Badezimmer. Hoffentlich folgte sie ihm nicht. Hoffentlich gab es nicht wieder ein Geklopfe an seiner Schlafzimmertür, hysterisches Geheule und Geschluchze: »Ich bring mich um ...«
Aber es blieb ruhig. Erleichtert begann er sich auszuziehen. Plötzlich öffnete sich die Tür ganz langsam und er hielt für einen Moment den Atem an. Sie würde doch nicht zurückkommen! Aber es war sein Sohn, Louis-Friedrich, der Erbe, der Stammhalter, dünn und blass und zu schmächtig für seine bald sieben Jahre. Er blieb an der Tür stehen und sah ihn unverwandt an mit diesen blauen, wässrigen Augen, den Dederer-Augen.
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