Beerensommer
führt nun Krieg und Herr Direktor Weckerlin liefert Grubenholz, Bauholz, Eisenbahnschwellen, was man eben so braucht. Und sie siegen, die Deutschen mit ihrem Führer, und Friedrich Weckerlin siegt mit. Der mächtigste Mann im Dorf. Der alte Zinser hat abgedankt. Über den lacht man nur, wenn er am Geburtstag des Kaisers die alte Reichsfahne hisst, und die Ortsnazis giften, man müsse jetzt endlich einmal etwas gegen diesen alten Querulanten unternehmen. Aber richtig trauen tut sich keiner. Der alte König ist ein Narr geworden, es lebe der neue, junge, dynamische König!«
»War es schlimm in Grunbach, zur Nazizeit, meine ich?«, fragt Anna, die bis jetzt nur im Geschichtsunterricht mit Hitler und Konsorten zu tun hatte. »Es hat doch sicher auch Leute gegeben, die Hitler kritisch gesehen haben und die auch Friedrichs Verhalten nicht gut, vielleicht sogar abstoßend fanden. Und Johannes – ich mag gar nicht daran denken. Bisher schreibt er fast nichts drüber, bleibt merkwürdig stumm.«
»Es war in Grunbach wie überall. Vor ’33 gab es eine kleine Gruppe fanatisch Überzeugter. Bereits vor der Machtergreifung hatten sie hier sogar eine Hitlerjugend! Du darfst nicht vergessen, wie verzweifelt die Leute damals waren. Der halbe Ort war arbeitslos, viele haben den Versprechungen der Nazis geglaubt. Ja, und nach ’33 – jede Menge Mitläufer,Opportunisten und Leute, die einfach Angst hatten. Und überall Hakenkreuzfahnen und Spruchbänder, Propaganda, Maiumzüge und Kinovorstellungen in der neuen Turnhalle – Brot und Spiele eben. Und dazwischen der ganz gewöhnliche Terror. Lastwagen fuhren vor, zehn SA-Männer saßen oben, unter dem offenen Verdeck. Die Sturmmützen waren festgeschnallt, in der Hand hielten sie die Gewehre mit aufgepflanztem Bajonett. Dann energisches Klopfen an der Tür, manchmal wird sie sogar eingetreten, wenn nicht rasch genug geöffnet wird. Hausdurchsuchung, alles wird herausgerissen, Leibwäsche, Bettwäsche, Geschirr. Matratzen werden aufgeschlitzt, nicht einmal das Spielzeug der Kinder, das kümmerlich genug war, haben sie in Ruhe gelassen.«
»Was haben sie denn gesucht?« Reichlich naive Frage, denkt Anna im selben Moment.
»Nun, Waffen, Munition, Flugblätter, ausländische Propaganda, wie man es nannte. Die Sache mit dem Dynamit war nicht vergessen. Und die Kommunisten hatte man fest im Visier. Die waren ja bekannt in Grunbach. Die SA ist nicht nur einmal gekommen. Immer wieder standen sie da, bewaffnet und feindselig, verwüsteten die Wohnungen, das muss richtig zermürbend gewesen sein! Die Älteren im Ort können sich heute noch daran erinnern, wie man die Männer in die so genannte ›Schutzhaft‹ fortgeschleppt hat. Es gibt Geschichten, wie sich manche am Türstock festgehalten haben und Frau und Kinder sich heulend und schreiend an sie klammerten. Ich weiß das so genau, weil es mir Johannes erzählt hat.«
Anna fällt spontan die Szene ein, als Johannes wegen des Dynamits geholt wurde. Aber von den Nazischikanen hat sie noch nichts gelesen. »Ist Johannes öfter verhaftet worden?«, fragt sie.
»Gott sei Dank immer nur für wenige Tage. Schlimm genug, selbst im Alter konnte er kaum darüber reden.«
»Hat man jemals etwas gefunden bei ihnen?«
»Ich glaube nicht. Es waren gewitzte Burschen. Zudem, viel gab es nicht zu verstecken. Ein paar Flugblätter, die auf abenteuerlichen Wegen zu ihnen gekommen waren, einige Bücher. Die Kommunistische Partei war zerschlagen und verboten. Außerdem hat die Solidarität des Dorfes auch eine Rolle gespielt. Bis auf die ganz Fanatischen hat man doch zueinander gestanden, hat sich vor allem als Grunbacher gefühlt. Sie wurden häufig vorgewarnt, am Rathaus seien wieder welche vorgefahren, man solle aufpassen. Gleich kämen sie vorbei und Ähnliches. Einige hörten auch so genannte Feindsender, vor allem BBC. Und dann ging das Gerücht um, Johannes habe jemanden versteckt. Unten im Keller, zwischen Kartoffeln, Sauerkraut und Maries eingemachten Bohnen. Aber es ist nie richtig herausgekommen, ob was dran gewesen ist. Auch Gretl weiß nichts davon – vielleicht hat er etwas darüber aufgeschrieben.«
Anna nickt und wirft einen Blick auf die schlafende Gretl. Die letzten Kapitel liegen noch vor ihr. Gedankenverloren blättert sie im Fotoalbum, dem letzten, das Christine gebracht hat. Friedrich, immer wieder Friedrich. Friedrich im Jagdanzug, vor dem Auto, im Smoking, ganz elegant, mit dem Sektglas in der Hand. Irgendwo in Baden-Baden
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