Beerensommer
wahrscheinlich. Später sei er auch viel an die Riviera gereist. Manchmal ist eine Frau mit auf dem Bild, hält sich zwar dezent im Hintergrund, scheint aber doch irgendwie dazuzugehören. Schöne Frauen, in teuren Kleidern, mit Schmuck, sogar mit Diademen im Haar.
Und Lisbeth? Es gibt auch Bilder von ihr, meistens mit Louis-Friedrich. Sohn und Mutter, im Garten der Villa sitzend oder ein paarmal auch an ferneren exotischen Orten mit Palmen und Meer. Aber es ist immer das Gleiche: Sie wirken seltsam farblos, blass, wie Puppen sehen sie aus, als hätte sie jemand angezogen und herausgeputzt und es ist gar kein Leben in ihnen. Anfangs ist Lisbeth so glücklich gewesen, mit Friedrich verheiratet zu sein. Am Ende aber scheint die Ehe nur noch eine Hülse gewesen zu sein.
Ich muss Richard unbedingt nach diesem Jungen fragen, nach Louis-Friedrich. Warum er so jung gestorben ist. Und was ist eigentlich aus Lisbeth geworden? Die Fragen nehmen kein Ende, denkt Anna.
Lisbeth sei ebenfalls früh verstorben, nur drei Jahre nach dem Tod ihres Sohnes, hat ihr Gretl erzählt. In Meran, während einer Kur. Sie sei nach Louis-Friedrichs Tod nur noch unterwegs gewesen, von Sanatorium zu Sanatorium habe sie sich geschleppt und dann sei plötzlich der Tod gekommen. Sie habe ganz ruhig auf der Veranda des Hotels gesessen, eingepackt in Decken, weil sie in der letzten Zeit ständig gefroren hatte. Die Krankenschwester habe später Friedrich erzählt, dass sie auf einmal ganz glücklich ausgesehen habe. Die Etsch sei an ihr vorbeigerauscht und sie habe auf einmal gemeint, das sei die Enz im Frühling. »Und da kommt mein Junge«, habe sie gesagt, »mein Stolz. Ein richtiger Dederer ist das, er wirkt schwach, aber er hat doch viel Kraft, der wird einmal alles erben, er allein.« Und dann ist sie eingeschlafen, mit einem Lächeln auf den Lippen.
Plötzlich fällt Anna wieder ein, was sie in Johannes’ Aufzeichnungen gelesen hat. Lisbeth, die Körbe geschickt hatte, Körbe mit Brot, Butter, Schinken – Dinge, die den Weckerlins beim Überleben geholfen hatten. Arme Lisbeth, schlecht ist es ihr vergolten worden.
Noch etwas anderes fällt ihr auf. In diesem letzten Album sind einige Fotos dabei, die Männer in Naziuniformen zeigen, einige Bilder scheinen auch ziemlich rüde herausgerissen worden zu sein. »Wer ist das?«, will sie von Richard wissen. Ein Gesicht taucht nämlich mehrere Male auf.
Richard, der ganz gedankenverloren ist, schreckt hoch und setzt sich die Lesebrille auf. »Das da ist oder vielmehr war Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter für Württemberg. Er hatte eine Jagd oben am Eiberg, ein Riesengebiet, bis hinunter ins Eyachtal ging die Stadtjagd. Er war oft zu Gast bei Friedrich. Es gab dann immer Empfänge in der Villa Weckerlin oder man hat sich zum Essen in einer Gaststätte getroffen. Der Murr, das war ein ganz besonderer und doch auch wieder typischer Fall.« Richard gießt sich noch etwas von dem badischen Spätburgunder ein und lächelt versonnen in das Glas. »Viele Leute hier haben ihn verachtet. Er hat gar keinen Jagdschein gehabt und hat sich offensichtlich auch sehr dilettantisch verhalten. Ein Angeber halt, insofern ein typischer Nazi – eigentlich ein kleines Licht, von unten gekommen und sich im neuen Ruhm sonnend. Von der Jagd hat er keine Ahnung gehabt. Manchmal haben ihn die örtlichen Förster, die schon ihren eigenen Korpsgeist hatten, regelrecht vorgeführt! Der Murr saß beispielsweise stundenlang auf dem Hochsitz, um einen bestimmten Hirsch zu schießen, und die Förster haben sich einen Spaß gemacht, den zu verjagen und am nächsten Tag selber zu schießen. Wenn er es gemerkt hat, hat er ihnen gedroht. Aber es ist nie etwas Ernstes passiert. Was ist, Mädchen?«, fragt er besorgt, als ihr Kopf immer weiter nach rechts fällt, fast auf Fritz’ Schulter. »Zu viele Bilder, zu viele Geschichten?«
»Zu viel von deinem Wein ... und dem Kirschwasser«, lächelt sie schlaftrunken. »Von allem etwas zu viel!« Sie lässt sich für einige Augenblicke fallen und genießt das Gefühl, wieder die Wärme eines anderen Menschen zu spüren. Fritz’ Wärme. Dann aber richtet sie sich energisch auf. »So, und jetzt müssen wir Gretl wecken. Sie gehört ins Bett und wir auch! Morgen will ich weiterlesen, die letzten Kapitel, obwohl ich mich insgeheim etwas davor fürchte. Sie werden wohl nicht besonders schön.«
»Da hast du sicher recht.« Christine blickt düster vor sich hin. »Kein Kapitel
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