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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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Auch alles andere an ihm ist farblos, er ist eben Lisbeths Sohn, dachte er in diesem Augenblick wieder erbittert. Und sie hätschelt ihn und füttert ihn ohne Unterlass mit Schokolade und überhäuft ihn mit Spielzeug, das Zimmer ist übervoll; und dann muss er wieder stundenlang an ihrem Bett sitzen, wenn sie ihre Zustände hat.
    Der Junge ist verhunzt, richtig verhunzt. Wenn Gretl nicht wäre ... Aber er dachte nicht weiter, fühlte nur tiefes Unbehagen bei diesem Blick aus den hellblauen Augen, denn er las den Vorwurf darin. Eigentlich müsste ich ihn in den Arm nehmen und ins Bett bringen, dachte Friedrich, er bettelt wie ein Hund. Aber stattdessen sagte er nur, um einen freundlichen Ton bemüht: »Es ist alles in Ordnung. Geh in dein Bett und versuche wieder zu schlafen. Du wirst dich sonst erkälten.« Die Tür wurde behutsam zugemacht und er hörte das leise Trippeln kleiner Füße auf dem Dielenboden.
    Als Friedrich später im Bett lag, bemühte er sich krampfhaft, die bitteren Gedanken niederzukämpfen, vor allem seine Schuldgefühle und die Erinnerung an den Augenblick, als er den anderen gesehen hatte. Kurz nach seinem Einzug in die Villa hatte er ihn gesehen, er war übermütig vor seiner kleinen Schwester davongerannt, die ihn kreischend zu haschen suchte. Er hatte ganz oben an seinem Grundstück gestanden, dort ging der Weg nach Hofen vorbei, und da hatte er sie gesehen. Die Kleine sah aus wie Marie und der Junge – kein Zweifel, wer das war! Ein richtiger Weckerlin war das, ein starkes, schönes Kind, sein Sohn! Er hatte ihn seither immer wieder aus der Ferne beobachtet, hatte auf seine Stimme gelauscht und eine Sehnsucht dabei gespürt, die er fast nicht mehr zu unterdrücken vermochte. Aber es war falsch, es war schlecht, es war Sünde, denn er hatte doch einen Sohn, Lisbeths Sohn, den er nicht lieben konnte.

41
     
    Richard hat noch eine Flasche Wein geöffnet und jetzt sitzen sie alle im Wohnzimmer, in den tiefen, bequemen Sesseln, müde vom guten Essen, dem Kirschwasser und dem Spätburgunder. Gretl ist eingeschlafen, sie schnarcht ein bisschen und an ihrem Kinn läuft ein feiner Speichelfaden herunter. Fritz hat sich dicht neben Anna auf das Sofa gesetzt und den Arm um sie gelegt. Anna weiß nicht, ob sie das mag, diese Geste hat etwas Besitzergreifendes. Trotzdem, seine Wärme tut mir gut, denkt sie wohlig und fängt an sich zu entspannen. Christine, deren flinker Blick sie immer wieder verstohlen streift, hat die Fotoalben herausgeholt, denn Anna hat darum gebeten.
    Da ist noch einmal das »Heidelbeerbild«, wie sie es nennt, und dort das Hochzeitsbild von Friedrich und Lisbeth. Dann gibt es viele Bilder mit diesem kleinen, blassen unglücklichen Jungen, diesem Louis-Friedrich, mit dem es wohl kein gutes Ende genommen hat. Sie hat heute Nachmittag die Daten auf dem Grabstein gelesen, er ist jung gestorben, gerade mal vierundzwanzig Jahre alt. Auf seinem Konfirmationsbild steht er zwischen Vater und Mutter. Er sieht tatsächlich Lisbeth ähnlich, dieser schmale Junge, dessen weicher Mund zu einem krampfhaften Lächeln verzerrt ist, als bemühe er sich mit aller Kraft, das zu tun, was man von ihm erwartet. Lisbeth scheint sich förmlich an den Jungen zu pressen, der neben ihr steht und sein Gebetbuch umklammert hält. Ihre Augen verschwinden unter der breiten Krempe des modischen Hutes, nur die Lippen sind zu sehen, dünne, zusammengekniffene Lippen, die sich nicht einmal die Andeutung eines Lächelns abringen können. Auf der anderen Seite des Bildes ist Friedrich zu sehen. Hoch aufgerichtet, seine Linke hat er auf die Schulter des Sohnes gelegt und je länger Anna das Bild betrachtet, desto mehr scheint es ihr, als drehe sich der Junge von ihm weg, als wolle er sich diesem Griff des Vaters entziehen. Er sieht immer noch gut aus, dieser Friedrich Weckerlin, denkt sie bewundernd, ein stattlicher Mann mit seinen vierzig Jahren. Er hat zugenommen, aber er ist nicht dick, eher muskulös, der breite Brustkorb scheint das elegante, zweireihige Jackett fast zu sprengen. Man spürt die ungebärdige Kraft, die er ausstrahlt, eine Kraft, die Lisbeth und ihren Sohn förmlich zu erdrücken scheint. Ein Wort fällt ihr plötzlich ein: »Damenmann«, irgendein Dichter hat mal davon geschrieben, ihr fällt nur nicht ein, welcher. Aber es passt.
    »Auf dem Höhepunkt seiner Existenz, reicher als je zuvor.« Richard setzt sich neben sie, auf die andere Seite des Sofas. »Das Deutsche Reich hat aufgerüstet,

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