Beerensommer
unserer Familiengeschichte, auf das wir stolz sein können. Dass sich Onkel Friedrich mit diesen Verbrechern eingelassen und für sie rauschende Empfänge gegeben hat ...«
» ... und dabei sehr viel Geld verdient hat!«, fällt Fritz ein, der bisher schweigend zugehört hat. Darauf sagt niemand etwas. Selbst Richard scheint auf einmal ungewöhnlich ernst zu sein und starrt durch die Terrassentür hinaus in eine schwarze Nacht, die in der Zwischenzeit alle Konturen ausgelöscht hat.
Ob er sich an seine eigene Geschichte erinnert? Die letzten Kapitel werden aufgeschlagen und sie wird jetzt erfahren, was es mit seiner Herkunft auf sich hat. Anna hat eine sehr konkrete Ahnung, aber sie will es ganz genau wissen.
»Was ist übrigens aus diesem Murr geworden?«, fragt sie noch im Aufstehen. Christine hat in der Zwischenzeit begonnen, sanft Gretl wachzurütteln.
»Hat Selbstmord begangen, zusammen mit seiner Frau. Kurz vorher hat sich übrigens sein einziger Sohn umgebracht, warum, weiß man nicht genau, oder, Papa?« Fritz richtet den Blick fragend auf Richard, der langsam wieder in die Gegenwart eintaucht.
»Nein, Genaueres weiß man nicht. Aber dass der Murr bis zuletzt ein überzeugter Nazi gewesen ist, das weiß man. Die Wildbader wollten von ihm den Status einer unverteidigten Lazarettstadt erhalten, das hätte sie vor Bombardierungen bewahrt. Aber er hat abgelehnt. Ist dann im April ’45 aus Stuttgart geflohen und hat sich nach seiner Verhaftung durch französische Soldaten umgebracht. Man könnte sagen, wenigstens in dem Fall hat es so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit gegeben. Andererseits, was heißt das schon? Wie viele Menschenleben wiegt das auf? Und wie viele sind durchgekommen und haben mit gutem Gewissen weitergelebt?«
»Auch Friedrich«, kann sich Anna nicht verkneifen zu sagen.
»Leider ja.« Christine seufzt. »Ein reines Gewissen hat er allerdings nicht gehabt. Spätestens bei Ausbruch des Krieges hat er gemerkt, auf wen er sich da eingelassen hat. Großmutter Emma hat oft davon gesprochen.«
Ach, Emma! Das ist noch so ein interessanter Punkt, denkt Anna und ist auf einmal wieder wacher. »Wie hat sie sich denn zu Friedrich gestellt, nachdem klar wurde, dass er die Nazis unterstützt?«
»Da ist zunächst ein tiefer Riss durch die Familien gegangen. Die Löwensteins waren außer sich, und vor allem natürlich Emma, denn nach ’33 hat Friedrich sich nicht mehr damit herausreden können, die Ausfälle gegen die jüdische Bevölkerung seien nur Propagandagetöse. Aber letztlich hat er Emma und seiner Nichte helfen können! Das wiegt doch auch etwas.«
»Vielen anderen allerdings nicht. ›Wer mit dem Teufel isst, braucht einen langen Löffel‹, hat Johannes immer gesagt.« Richards Stimme klingt böse und auch traurig. »Erst viel später hat er das eingesehen. Viel zu spät. Zu spät für Guste Mühlbeck und Gustav Mössinger, dem Chinesle, und viele andere. Aber was rede ich, meine eigene Familie war nicht besser, eher noch schlimmer, weil sie von dieser Naziideologie tief überzeugt war.«
Schluss jetzt, denkt Anna erschöpft. Es reicht für heute. Morgen früh schlage ich diese letzten Kapitel auf.
Die Verabschiedung ist etwas abrupt, sie hat das Gefühl, dass die Caspars enttäuscht sind, aber vielleicht bildet sie sich das auch nur ein. Wahrscheinlich sind alle müde und sentimental. Gemeinsam mit Fritz bringt sie Gretl in ihr Schlafzimmer. Die alte Dame macht einen mitgenommenen Eindruck, aber nachdem sie ihr Schuhe und Jacke ausgezogen und die Decke über sie gebreitet haben, scheint sie tief und fest zu schlafen. Unten im Flur hält Fritz sie fest: »Und wie geht es jetzt weiter?«
Für einen Moment denkt Anna, dass es ganz verlockend wäre, ihn mit hinaufzunehmen in die kleine Kammer – durch die geöffneten Fenster strömt die würzige Luft, die sie schon am ersten Abend als so wohltuend empfunden hat. Eine balsamische Maiennacht, wie Eichendorff sagen würde, mit »Nachtigallen ... und Mond und Sternen über dem Garten eine gute, schöne Nacht«. Nicht mehr an Marie denken und die Schatten der Vergangenheit, sich für eine Weile ganz fallen zu lassen in ein kurzes, aber zeitloses Glück.
Aber das geht nicht so einfach! Sie nimmt Fritz’ Hände und flüstert: »Lass mir noch ein bisschen Zeit. Ich muss erst wissen, in welchem Drehbuch wir sind. Ob es wirklich unser eigenes ist. Oder ob wir uns nur von den alten Geschichten anstecken lassen ... Ich hab einfach im
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