Beerensommer
stimmt das nur zu einem Teil. Es ist Eifersucht, schlicht und einfach Eifersucht. Ich komme nicht darüber hinweg, dass er Friedrichs Sohn ist. Ich komme nicht darüber hinweg, dass Marie ihn so liebt, in ihm vielleicht Friedrich liebt. Dabei könnte ich so stolz auf ihn sein! So ein hübscher Junge, sagen die Leute, und so klug. Er war der beste Schüler an der Oberschule in Wildbad. »Wir schicken ihn auf die höhere Schule«, hatte er damals zu Marie gesagt, als Georg stolz das Zeugnis der vierten Klasse Volksschule heimgebracht hatte. »Wir schicken ihn dahin, koste es, was es wolle. Und wenn ich Tag und Nacht arbeiten muss.«
Das zumindest konnte er für sich in Anspruch nehmen: Er sorgte für den Jungen, wie er für seine leibliche Tochter sorgte. Da machte er keine Unterschiede. Aber er konnte ihn nicht lieben. Und irgendwann hatte Georg wohl auch aufgehört ihn zu lieben. Er erinnerte sich noch an den kleinen Burschen, wie er auf ihn zugestürzt war, wenn er von der Arbeit kam, hörte ihn »Papa, Papa« rufen und er sah den leuchtenden Blick, wenn er mit Anna bei ihm saß und er ihnen Geschichten erzählte, stundenlang Geschichten erzählte. Aber er erinnerte sich auch an die stumme Frage in diesen Augen, wenn er sich nach einer flüchtigen Liebkosung hastig wegdrehte und die kleine Anna auf den Arm nahm und sie an sich drückte – sein eigen Fleisch und Blut. Und irgendwann war die Frage in Georgs Blick erloschen, hatte einem ratlosen Schmerz Platz gemacht und jetzt zeigte dieser Blick nur noch Gleichgültigkeit und Verachtung.
Aber das Schlimmste war, dass nun auch Anna zu fragen begann: »Warum bist du so abweisend zu Georg, warum schlägst du ihn so oft?« Und bald würde Anna ihn ebenfalls verachten und er konnte nichts dagegen tun, weil er nicht ankam gegen diesen tiefen, bohrenden Schmerz, der seit Maries Betrug in ihm saß und den er gegen Georg richtete.
Lene hatte recht. Vor ein paar Tagen hatten sie abends zusammengesessen auf der Bank unter dem Zwetschgenbaum, es war einer dieser warmen Sommerabende gewesen, an denen die Zeit stillzustehen schien. Gretl und Lene waren herübergekommen von der Villa. Friedrich sei in Stuttgart, irgendein offizielles Essen, und Lisbeth sei mit Louis-Friedrich nach Wildbad gefahren, eine ehemalige Schulfreundin besuchen. Er hatte gehört, wie Gretl es leise Marie erzählt hatte, denn ihm gegenüber erwähnte sie nie etwas von dem, was im »Protzpalast« passierte, wie er ihn nannte. Sie kamen oft auf ein Schwätzchen herüber, jubelnd begrüßt von den Kindern, denen sie immer eine Leckerei mitbrachten. Auch das hatte er erst nicht dulden wollen – »von da drüben nehmen wir nichts« –, aber Lene und Gretl hatten kategorisch erklärt, die Geschenke seien von ihnen und hatten sich weiter nicht darum geschert. So hatte er sich grollend gefügt, auch weil er die Freude der Kinder sah.
Es war ein gemütliches Zusammensein gewesen, er hatte einen Krug Most geholt, als plötzlich vom unteren Teil des Gartens, wo die langen Reihen der Bohnenstangen standen, Geheul ertönte. Anna schien sich wehgetan zu haben. Kurz vorher hatte sie ihren großen Bruder, der etwas abseits gesessen und gelesen hatte, so lange gehänselt, bis Georg aufgesprungen war, um sie zu fangen. Mitten in das Bohnenbeet, in die dichten Ranken der Bohnen war sie kreischend vor Vergnügen gerannt und dann hatte sie sich offensichtlich an einer der Stangen verletzt, jedenfalls kam sie mit einem stark blutenden Handrücken zur Mutter, gefolgt von Georg, der sie zu trösten versuchte. Marie wollte schnell aufspringen, um ein Pflaster zu holen, aber er kam ihr zuvor. Fühlte wieder diese wahnsinnige Wut, die er nicht zügeln konnte, und verpasste Georg eine Ohrfeige. Anna hatte wütend aufgeschrien: »Warum tust du das? Ich bin doch ganz alleine schuld!« Und Marie war auf ihren Platz zurückgesunken, mit diesem seltsam erloschenen Blick. Und Georg – er hatte sich abgewandt, sein Buch genommen und war schweigend hinaufgegangen in sein Zimmer, gefolgt von Anna.
In diesem Moment hatte er alleine dagestanden. Selbst Gretl und Lene schienen von ihm wegzurücken, und er spürte ihre strenge, wortlose Verurteilung. Er schämte sich, schämte sich so sehr. Aber diese Scham drang nicht nach außen und fand keine Worte. Ich müsste ihm nachgehen, einmal müsste ich ihm nachgehen und ihn in den Arm nehmen, hatte er gedacht. Nur einmal, dann wird alles wieder gut! Aber er konnte es nicht.
Da hatte sich auf
Weitere Kostenlose Bücher