Beerensommer
Moment den Kopf nicht frei, verstehst du?«
Fritz zieht sie schweigend in seine Arme. Für eine Weile verharren sie so. Aus der rechten Tür dringt leise das rhythmische Schnarchen von Gretl.
»Und du willst in ein paar Tagen wirklich zurück nach Berlin?«
»Ich muss, Fritz. Ich muss einiges klären und erledigen. Außerdem«, sie lächelt, »ist der Weg nach Berlin selbst vom Schwarzwald aus gesehen nicht mehr so weit! Flugzeug, ICE, Auto – keine Postkutsche.«
»So wie unser Märchenheld aus dem ›Taugenichts‹ würde ich garantiert nicht auftauchen. Ich bin stockunmusikalisch! Nichts mit Geige und Liedern.«
»Schade eigentlich!«, kichert Anna verschmitzt. Jetzt müssen sie beide lachen.
Später bleibt Anna noch lange am offenen Fenster stehen. In der Zwischenzeit ist wirklich der Mond aufgezogen, ein richtig schöner Halbmond. Früher, als Kind, hat sie immer die Konturen eines Gesichts darin gesehen. Der Mann im Mond! Er lässt den gezackten Bergkamm schwärzlich gegen die samtblaue Nacht hervortreten.
Im Sommer müsste ich wiederkommen, denkt Anna. Ich muss unbedingt einen solchen Beerensommer erleben, muss fühlen, schmecken, riechen ... Den Wald im Sommer sehen.
Seltsam, so viele Fotos hat sie heute Abend gesehen, alle Personen darauf sind, bis auf wenige Ausnahmen, schon längst tot. Und alle ihre Träume und Hoffnungen mit ihnen. Nur diese Sommer sind geblieben, denkt sie. Der Wald, der Katzenbuckel, und in ihnen klingt etwas nach vom Vergangenen, wie ein ganz leises, aber unzerstörbares Echo.
42
Johannes blieb für einen Moment stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war ungewöhnlich heiß in diesem September 1938. Außerdem war er viel zu schnell gelaufen. Die Lunge machte ihm seit einiger Zeit wieder Schwierigkeiten, er hatte Mühe beim Atmen und spürte immer häufiger diesen vertrauten stechenden Schmerz. Die Arbeit in der Gießerei forderte ihren Tribut! Er betrachtete für einen Moment geistesabwesend die dunkelgrünen Fichten links und rechts des Weges, hinter denen sich das undurchdringliche Dunkel des Waldes ausbreitete. In der Luft hing dieser unverkennbare, süßlich-erdige Geruch, der Geruch aller Beerensommer.
Was für ein Unterschied zur großen Werkshalle beim Tournier, die erfüllt war vom beißenden Qualm, dazwischen zuckte der grelle Feuerschein der Metallöfen und über allem hing der Gestank rauchenden Öls. Die Hitze war mörderisch, ganz anders als die Hitze des Sommers im Wald, wo man frei atmen konnte und wo ab und an ein kühlender Lufthauch den Schweiß trocknete. Dort in der Werkshalle saß die Glut in allen Poren des Körpers, eine Glut, die einem den Atem nahm, und trotzdem musste man arbeiten, das flüssige, rotglühende Metall in die Formen leiten, in stumpfsinniger Monotonie stets die gleichen Handgriffe verrichten.
Er atmete noch einmal tief durch. Warum sich beklagen, er hatte Arbeit, er konnte seine Familie ernähren, was wollte er mehr? Kein Gedanke mehr an vergangene Träume. Langsamer setzte er seinen Weg fort. Das Herz schlug immer noch unregelmäßig und er bemühte sich, gleichmäßig Luft zu holen. Er war viel zu schnell gelaufen vorhin. Aber er hatte weggewollt, so schnell wie möglich, weg von diesen Augen, weg vom vorwurfsvollen Blick Maries und der Empörung Annas; seiner kleinen Anna, die ihm ihren Zorn entgegengeschleudert hatte: »Warum schlägst du Georg? Immer schlägst du ihn!«
Sie hatte recht. Er schlug den Jungen viel zu oft. Immer wieder nahm er sich vor, ruhig zu bleiben. Nachts, wenn er neben Marie lag und ihr mühsam unterdrücktes Schluchzen bemerkte, schwor er sich, es nie wieder zu tun. »Ich verstehe ja, dass du ihn nicht richtig lieben kannst. Aber bestrafe ihn nicht immer so hart, er kann doch nichts dafür!«
Er nahm es sich immer wieder vor, er war voll guten Willens! Aber dann traf ihn dieser Blick aus den braunen Augen, dann sah er diesen Ausdruck, den er kannte, diesen Stolz, diesen Hochmut, auch ihm gegenüber, dem Vater. Früher, als kleines Kind, hatte Georg ihn noch bedingungslos geliebt. Doch nun verachtete er ihn, weil er schwach war, weil er prügelte, genau wie damals die Lehrer an der Schule, Caspar und die anderen.
Er ist ganz Friedrichs Sohn, dachte Johannes erbittert. Und ich komme nicht darüber hinweg. Je älter er wird, desto ähnlicher wird er ihm! Ich muss mir nichts vormachen. Es ist nicht der Hochmutsteufel, den ich ihm austreiben will, wie ich zu Marie immer sage. Zumindest
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