Beerensommer
noch im Winter ’44 hatte er auch Lisbeth und Louis-Friedrich nach Davos geschickt, ebenfalls zur Kur. Wie er den Louis aus dem Krieg herausgehalten hat ... In den ärztlichen Attesten stand etwas von schwerem Lungenleiden und nervlicher Zerrüttung. Louis’ Jahrgang ist 1944 eingezogen worden und im Frühjahr ’45 hatten sie die Sechzehnjährigen in den Volkssturm gesteckt, richtige Kinder sind das noch gewesen. Und Louis-Friedrich saß in einem vornehmen Hotel in Davos und trank Tee.«
Anna hört wohl die Missbilligung in Gretls Stimme. »Warst du nicht froh darüber? Das hat ihm das Leben gerettet!«, meint sie.
Gretl zögert mit der Antwort. »Sicher war ich froh. Und trotzdem ... Ach, ich kann es nicht richtig sagen. Ich glaube, der Junge hat sich insgeheim geschämt. Der Vater kauft ihn frei, immer wieder der Vater. Dabei hat ihn Friedrich gar nicht richtig gemocht und das hat Louis-Friedrich ebenfalls gespürt. ›In dem Jungen ist kein Leben‹, hat Friedrich immer gesagt. Wenn er dem Jungen mehr Anerkennung gezeigt hätte ... Louis hat ja noch das Abitur gemacht, gar nicht einmal so schlecht, und er wollte nach dem Krieg studieren, das hat er mir immer wieder erzählt. Er wollte, dass sein Vater stolz auf ihn ist. Und dann hat ihn Friedrich in die Schweiz verfrachtet und er hat es geschehen lassen, hat ihm nicht widersprochen. Das hat ihm das Leben gerettet, keine Frage, aber es hat ihn auch seine letzte Selbstachtung gekostet.«
46
Verrückte Welt, denkt Anna. Johannes und Georg, Friedrich und Louis. Väter und Söhne. So viele Missverständnisse! Vieles, was nie ausgesprochen wurde, so viel unerfüllte Wünsche und alle gehen daran zugrunde. Aber jetzt will sie noch etwas über einen anderen Sohn wissen, über Richard Caspar, den dritten. Sie hat gelesen, was Johannes darüber geschrieben hat, findet, dass es eine fürchterliche, ja sogar unglaubliche Geschichte ist. Gretl muss es ihr auch erzählen, aus ihrer Perspektive. »Der Einmarsch der Franzosen, Gretl«, drängt sie. »Erzähl mir davon, vor allem das mit Frau Caspar.«
Gretl zögert. »Ich rede nicht gerne darüber. Das sind so Sachen, an die erinnert man sich lieber nicht. Es war überhaupt eine furchtbare Zeit.«
Anna spürt wieder den Anflug eines schlechten Gewissens. »Wenn es dich aufregt oder zu sehr anstrengt ...«
Für einen Moment lastet ein drückendes Schweigen über ihnen. Aber plötzlich fängt Gretl mit brüchiger Stimme an zu erzählen. »Nein, nein, es geht schon. Ich habe mir heute Morgen gedacht, dass es ganz gut ist, wenn ich über manches noch einmal rede.«
Sie erzählt, dass am Nachmittag des 14. April 1945 die ersten Panzer der Franzosen einfuhren. »Es wurde dauernd geschossen und es brannten auch einige Häuser. Die Leute wollten löschen, und das war gefährlich, denn die Franzosen schossen immer noch, auch weil sie nicht beurteilen konnten, welche Absichten die Menschen hatten. Am Meistern und am Hengstberg hatten sich zudem noch deutsche Einheiten mit Maschinengewehren verschanzt gehalten. Gleich zu Beginn des Einmarsches haben sie vier französische Soldaten erschossen, da sind deren Kameraden natürlich sehr wütend gewesen. Einen Grunbacher, der seine Kuh aus dem brennenden Stall retten wollte, haben sie ohne Vorwarnung unter Feuer genommen und er ist gestorben. Ja, der ganze Ortskern stand voll mit Panzern und die französischen Soldaten haben dann Haus für Haus durchkämmt. Am Abend ist dann der Ausscheller durch den Ort gezogen und hat die erste Anordnung der Militärkommandantur verlesen – alle Schusswaffen, alle Munition, die Radios und sogar die Fahrräder musste man in der Kirche abgeben! Friedrich hatte doch so viele Jagdgewehre im Haus, die habe ich mit Mutter auf den Leiterwagen gepackt, den wir für die Gartenarbeiten hatten, und dann sind wir gleich am nächsten Morgen losmarschiert. Die Franzosen haben nicht schlecht gestaunt, als wir mit dem Zeug ankamen. Sie waren erst sehr misstrauisch, aber es gab einen Dolmetscher und dem konnten wir alles erklären und so haben sie uns wieder ziehen lassen. Friedrich haben sie gleich am nächsten Tag geholt. Es fuhr ein Jeep vor, wie man das nannte, und Soldaten sprangen heraus, lasen schnell etwas vor, ich habe es gar nicht verstanden. Friedrich durfte ein paar Sachen zusammenpacken, ich habe ihm dabei geholfen. ›Schreib an Emma‹, hat er noch gesagt, und wir sollen auf das Sägewerk achten. Der Betrieb war in den letzten Kriegswochen
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