Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
Vom Netzwerk:
sie es jetzt nennt, nicht so lange alleine lassen. Wenn man so unvermutet einen Großvater bekommt ... Vielleicht hätte man es ihr gleich sagen sollen, aber Richard hat immer abgewehrt. »Der Name Friedrich Weckerlin sagt ihr doch gar nichts, lass sie erst lesen, und du erzählst es ihr dann, wenn sie fragt, das ist besser.«
    Hoffentlich hat er recht, denkt sie und öffnet das Türchen zu Johannes’ Garten. Richtig, da hinten auf der Bank sitzt Anna und starrt Löcher in die Luft. Johannes’ Augen, denkt Gretl, aber der starrsinnige Zug, den sie da manchmal um den Mund hat, der kommt von den Weckerlins.
    Anna rückt zur Seite, um Gretl Platz zu machen. »Was liest du gerade?«, fragt sie und holt dabei pfeifend Luft.
    »Schlimme Sachen, Gretl. Über den Krieg. Und das Ende im Frühjahr ’45. Was alles so passiert ist, damals. Dass weit über zweihundert Grunbacher gefallen sind. Es gab keine Familie, die verschont geblieben ist. Wie habt ihr das alles bloß ausgehalten?«
    Gretl gibt die gleiche Antwort wie sich selbst vorhin in ihren Gedanken: »Man ist abgestumpft. Man hat um das eigene Überleben gekämpft. Und später wollte man sich nicht mehr daran erinnern. Der Mensch ist feige und bequem. Und vielleicht braucht er das Vergessen auch, um weiterleben zu können.«
    Anna schüttelt unwillig den Kopf. »Das darf man aber nicht. Man muss sich erinnern, das ist man den Toten, den Opfern schuldig. Johannes schreibt das auch.« Sie regt sich richtig auf. »Ich habe gerade von Gustav Mössinger gelesen. Kurz nachdem er nach Grafeneck gekommen ist, kam ein Brief, er sei an Lungenentzündung gestorben. In Wahrheit hat man ihn umgebracht, mit einer Injektion, ›abgespritzt‹, so nannte man das. Johannes schreibt davon. Oder vielleicht wurde er auch mit Kohlenmonoxid vergast. ›Vernichtung unwerten Lebens‹ – sein Leben war so viel wert wie das eines jeden anderen Menschen auch! Seine Mutter hat ihn so geliebt. Gustav Mössinger, das Chinesle, einer von vielen Millionen, denen man das Recht auf Leben abgesprochen hat. Die darf man nicht vergessen!«
    Gretl nickt. Anna hat recht. Der Eifer der Jugend! Trotzdem – »Wer wird sich in zehn Jahren noch an Gustav Mössinger erinnern?«, fragt sie zurück. »Wenn alle gestorben sind, die ihn gekannt haben, wird auch er in Vergessenheit geraten. Mit jeder Generation sterben auch ihre Erinnerungen.«
    Anna lässt sich nicht überzeugen. »Dann gäbe es auch keine Geschichtsbücher. Man muss es so machen wie Johannes, man muss es aufschreiben. Ich werde das Chinesle nicht vergessen und den Siegfried Löwenstein nicht und auch nicht die Guste Mühlbeck und den Georg, obwohl ich sie alle nicht gekannt habe. Das sind wir ihnen einfach schuldig.«
    Gretl hat noch einen Einwand. »Das ist schon richtig, was du sagst. Zumindest sollten wir unsere Lehren aus dem ziehen, was geschehen ist. Aber ich glaube, das ist nur ein frommer Wunsch. Sonst gäbe es ja keine Kriege mehr auf der Welt.«
    Da muss Anna ihr zustimmen. »Ich lese gerade Johannes’ Aufzeichnungen über den Einmarsch der Franzosen im April 1945. Er schreibt, dass der Krieg die Menschen noch schlechter macht, Hass und Zerstörungswut, kurz: Das Schlechteste in ihnen würde geweckt.«
    An die Besetzung Grunbachs kann sich Gretl noch gut erinnern. »So ein schöner Frühling war das. Im März und Anfang April wurde Grunbach mehrfach bombardiert und dabei sind auch Leute umgekommen.«
    »Was habt ihr gemacht, wenn es Alarm gab?«
    »Haben im Keller gehockt und gebetet. Was sollten wir sonst auch tun? Und gewartet haben wir. Dass wir den Krieg verloren hatten, das war jedem klar. Einerseits waren wir froh, dass der Spuk vorbei war, andererseits haben wir natürlich auch Angst gehabt vor dem, was kommt. Der Einmarsch der Besatzungstruppen stand unmittelbar bevor. Friedrich ist merkwürdigerweise ganz ruhig geblieben. ›Ich bin einer der Ersten, den sie holen werden‹, hat er zur Mutter und zu mir gesagt. Er ist nämlich doch noch Parteigenosse geworden, kurz nach Emmas Flucht in die Schweiz. ›Sicher ist sicher‹, hat er damals gemeint. Er war fest davon überzeugt, dass er bestraft werden würde. ›Du bist doch gar kein richtiger Nazi gewesen‹, habe ich ihm entgegengehalten, ›hast niemandem etwas getan, manchen sogar geholfen.‹ Aber das ließ er nicht gelten. ›Ich habe mit den Wölfen geheult und ihnen das Fressen bezahlt.‹ Trotzdem hat er keine Angst gehabt. Emma und Aurelie waren in der Schweiz und

Weitere Kostenlose Bücher