Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
Vom Netzwerk:
marschierte hinüber zum Lehrerpult. Er setzte sich und zerrte aus seiner Schublade ein dickes Buch hervor, dann benetzte er seinen Zeigefinger mit Spucke und blätterte, blätterte, bis er offensichtlich gefunden hatte, wonach er suchte, denn er hob den Blick und sagte mehr zu sich selbst als zu den vor ihm stehenden Kindern: »Die Zahl stimmt fast, du hast dich nur um wenige Tausend vertan, Weckerlin.«
    In diesem Moment geschah etwas! Es geschah nicht äußerlich, nicht sichtbar, nicht greifbar, nicht hörbar. Aber es passierte in den Köpfen und Herzen der Kinder und es spiegelte sich in ihren Augen wider, die alle auf den Herrn Oberlehrer Caspar gerichtet waren. Und er spürte diesen Blick, zog den Hals zwischen die Schultern ein und glich auf einmal einem riesigen schwarzen Insekt, das sich aufplustert, um gefährlich zu erscheinen.
    Aber es nutzte ihm nichts; er war entlarvt! Er hatte die Einwohnerzahl von Köln selber nicht gewusst, hatte einfach etwas erfunden, um drauflosprügeln zu können, um seiner Wut einen Weg zu bahnen. Und der Oberlehrer Richard Caspar sah in sechzig Augenpaare und las darin Verachtung!
     
    In den nächsten Tagen wartete die Klasse mit angehaltenem Atem. Wie würde Caspar reagieren? Würde er sich an Friedrich rächen? Würde er es ihnen allen mit noch mehr Prügeln und noch mehr Schikanen heimzahlen? Selten warteten alle so sehnsüchtig auf den Beginn der großen Ferien wie in diesem Jahr.
    »Pass bloß auf«, sagte Johannes am Morgen des letzten Schultages zu Friedrich, als sie am wackligen Küchentisch saßen und das steinharte Kommissbrot in die mit Wasser verdünnte Milch tunkten. Frau Weckerlin, die von dem Vorfall nichts wusste, war für einen Moment hinausgegangen, um nach Wilhelm zu schauen, der seit gestern Abend wieder einmal hohes Fieber hatte.
    Friedrich reagierte nicht auf Johannes’ Warnung. Mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck sah er zur Tür, durch die die Mutter verschwunden war. Wahrscheinlich dachte er an den kleinen Bruder, der ständig kränkelte und seine neue Umgebung, auch fast ein Jahr nach ihrer Einweisung in die Stadtmühle, mit schreckhaft geweiteten Augen ansah, als könne er immer noch nicht begreifen, was geschehen war.
    Für einen Moment dachte Johannes erbittert daran, dass es eigentlich ein Wunder war, wenn in der Stadtmühle ein Kind gesund blieb. Im Winter war es zu kalt und zu feucht und jetzt im Sommer drang der Gestank vom Abort durch alle Räume und die fetten Fliegen, die von dort kamen, ließen sich überall nieder. Und wenn man in der Nacht aufs Klo musste, war es besonders gruselig, denn lautlos huschten einem die Ratten um die Beine. Guste war erst vor ein paar Tagen gebissen worden und die Wunde eiterte noch immer! Er riss sich von seinen düsteren Betrachtungen los und wiederholte seine Warnung.
    »Wie meinst du das?«, fragte Friedrich gleichmütig und mühte sich, den Rest des trockenen Brotkanten mit seinen kräftigen Zähnen zu zerteilen.
    »Er ist wütend auf dich. Kein Wunder, so, wie du ihn vorgeführt hast. Wie er dich immer ansieht. Wie ein ... ein Wolf. Pass auf, der wird es dir heimzahlen!«
    »Ich bin aber kein Geißlein. Ich hab keine Angst!« Friedrich lachte abfällig. »Was hat er früher gekatzbuckelt, wenn er Vater oder Mutter auf der Straße gesehen hat. Er ist feige, bloß feige. Er soll es bloß wagen ...« Friedrich beendete den Satz nicht und Johannes sah den Freund besorgt an. Lange Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es oft besser war, sich wegzuducken. Aber Friedrich mit seinem vermaledeiten Stolz ...
    Johannes ließ das Thema fallen und sie machten Pläne, an welche Plätze man in den nächsten Tagen gehen würde und wo man die besten Preise für die Beeren bekommen konnte. Der Sommer war bisher heiß gewesen, das verhieß eine gute Ernte, besonders die Himbeeren leuchteten schon prall und rot aus dem Dornengestrüpp. Vielleicht mache ich mir umsonst Sorgen, dachte Johannes, als er sich die abgeschabte Stofftasche griff, die der Ahne gehört hatte und die er als Schulranzen benutzte. Vielleicht ist der Caspar genauso wie wir einfach froh, wenn die Ferien beginnen und er seine Ruhe hat. Dann kann er wieder in die Dörfer gehen und den Leuten den Kopf ausmessen.
    Als sie im Klassenzimmer ankamen, saßen die meisten Kinder schon hinter ihren Pulten. Sie plapperten erwartungsvoll durcheinander. Heute, am letzten Schultag, ging es nicht so streng zu. Nachher marschierten alle zur Kirche und vorher gab es eine

Weitere Kostenlose Bücher