Beerensommer
gemalt und wollte es mir noch etwas genauer anschauen.«
Johannes löste seinen Blick von der goldenen Uhrkette, die aus dem schwarzen Gehrock hing. Er hatte während des Gesprächs diese Kette fixiert, als sei sie ein Ankerpunkt, an dem er sich festhalten konnte. Aber jetzt musste er Caspar davon überzeugen, dass er die Wahrheit sagte. Er blickte Caspar fest an, blickte direkt in seine Augen mit dieser undefinierbaren Farbe. Genau unterhalb des rechten Auges befand sich ein kleiner Schnitt, an dessen Rändern winzig kleine geronnene Bluttropfen hingen. Caspar hatte sich am Morgen wohl beim Rasieren geschnitten.
All das registrierte Johannes in Sekundenbruchteilen und dachte trotz der Schrecken dieses Augenblicks, dass man Caspar malen müsste. Dieses feiste Gesicht mit den hängenden Wangen, die Augen, die wie verschmiert unter den dicken Lidern lagen, und die Kerben an den Mundwinkeln, die der Person etwas Grämliches, Unzufriedenes verliehen; das müsste man malen! Ich möchte wirklich ausprobieren, ob ich das hinbekomme, dachte Johannes.
Mitten in seine Überlegungen hinein wiederholte Caspar seinen Vorwurf und diesmal klang es wie eine Kampfansage: »Du lügst, Helmbrecht! Du lügst, und das ist das Schlimmste. Ich habe dich zeichnen gesehen, hier in diesem Raum, habe dein Geschmier gesehen. Wie kannst du behaupten, du hättest das da«, er hob vorsichtig das Bild etwas höher und zeigte damit auf Johannes, »ich wiederhole, du hättest das da selbst gemalt? Also, wie bist du zu dem Bild gekommen? Und was hattest du mit ihm vor? Antworte, oder ich prügle dich windelweich!«
Johannes merkte, wie ihm Tränen in die Augen schossen, Tränen der Angst und auch Tränen des verletzten Stolzes. Aber er wollte nicht weinen, diesen Triumph wollte er Caspar nicht gönnen. Es war sein Bild, er hatte es gemalt und Caspar schien etwas von dem Bild zu halten, sonst würde er Johannes nicht so hartnäckig bedrängen. Wie konnte er ihn nur davon überzeugen, dass er das Bild wirklich gemalt hatte? Er hielt den Blick immer noch fest auf den Lehrer geheftet. »Ich lüge nicht, Herr Oberlehrer, ich habe das Bild gestern Mittag gemalt. Ich schwöre es.«
Gedämpftes Murmeln und unruhiges Füßescharren durchbrach plötzlich die Stille, einige Mädchen kicherten nervös und halb gemurmelte Satzfetzen drangen zu Caspar und Johannes vor. Auf einmal fühlte er sich am Oberarm gepackt und nach vorne zum Lehrerpult gezogen. Caspar zerrte ihn auf den Stuhl, hob den Pultdeckel und holte ein weißes Blatt Papier und einen Bleistift heraus. »Hier. Du malst jetzt unverzüglich ein Bild!« Caspar ließ seine Hand schwer auf das Blatt fallen. Er hatte kurze, wulstige Finger und auf dem Handrücken sprossen dicke schwarze Haare, auf die Johannes jetzt fasziniert starrte. Man müsste ihn wirklich malen, dachte der Junge erneut.
»Also, wird’s bald!« Die Hand klopfte drohend auf das Papier. »Du hast die restliche Stunde Zeit. Das Bild muss nicht fertig sein, aber ich will etwas sehen auf dem Papier da. Dann wird’s sich zeigen, Johannes Helmbrecht, ob du ein ganz gewöhnlicher Lügner bist oder ...«
Caspar vollendete den Satz nicht, er hing im Raum wie eine Drohung, aber auch als Andeutung einer Möglichkeit, an die Caspar wohl nicht glauben konnte.
Oder ..., dachte der Junge, was bin ich dann? Laut sagte er: »Was soll ich malen, Herr Oberlehrer?« Er sagte das mit großem Ernst und fast beiläufig, wie einer, der sich seiner Sache sehr sicher ist und nur noch wenige Kleinigkeiten abklären muss. Offenbar lag Caspar eine spöttische Antwort auf der Zunge, denn seine Mundwinkel hatten sich verächtlich gekräuselt. Allerdings schien der ernsthafte Blick des Jungen nicht ohne Wirkung zu bleiben.
Caspar ließ das Lächeln aus seinem Gesicht fallen. »Nun ...« Sein Blick glitt suchend über das Klassenzimmer und blieb dann an Friedrich Weckerlin hängen, der wie erstarrt dazusitzen schien. Die Hände des Jungen waren so fest um die Ecke des Pultes gekrallt, dass die Knöchel weiß hervortraten. In seinem Blick schien etwas Wildes, Unberechenbares zu liegen, denn Caspar wandte unwillkürlich den Kopf, als könne er den Blick nicht ertragen. Durch Friedrichs Haltung provoziert, konnte er sich einen Seitenhieb dennoch nicht ganz verkneifen, denn er sagte nach einem kurzen Moment des Nachdenkens: »Nun also, da du in der Wahl deiner Modelle offensichtlich nicht sehr wählerisch bist, schlage ich vor, du zeichnest mich!«
Unterdrücktes
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