Beerensommer
Vorlesestunde. Die Geschichten, die der Caspar vorlas, waren zwar sterbenslangweilig, aber das war immer noch besser als eine endlose Schulstunde, in der jederzeit der gefürchtete Rohrstock herabsausen konnte. Nein, dachte Johannes, heute kann eigentlich nicht mehr viel passieren! Nachdenklich sah er sich um und betrachtete die Gesichter. Die meisten Kinder mussten in den Ferien arbeiten, mussten bei der Heuernte mithelfen und später bei der Obsternte. Trotzdem lag auf allen Gesichtern eine stille Freude. Er sah ein Leuchten in den Augen, denn keine Schule zu haben bedeutete trotz aller Arbeit ein kleines Stück Freiheit.
Die erste Stunde ging quälend langsam vorbei. Dann holte Caspar ein Buch aus dem Pult und verkündete feierlich, vor dem Kirchgang wolle er nun etwas ganz Besonderes vorlesen. Ein leiser Seufzer ging durch die Klasse. Sie kannten das Buch, wieder einmal würde es die germanischen Heldensagen geben, die die Klasse nun schon fast auswendig kannte. Nach einer Weile, als die Schüler ergeben vor sich hin dösten und sich von oben Caspars monotone Stimme wie Watte über den Raum legte, kramte Johannes mit äußerster Vorsicht ein Blatt aus seiner Tasche, um es intensiv zu betrachten. Der Geißen-Willi machte einen langen Hals, konnte aber nicht richtig erkennen, um was es sich handelte. Seit einiger Zeit hatte sich Johannes auf das Malen von Menschen und speziell von Gesichtern konzentriert. Die schlechten Farben, die ihm zur Verfügung standen, hatten ihn immer unzufriedener gemacht. Aber Gesichter, so fand er, konnte man sehr gut mit dem Bleistift zeichnen.
Eines seiner bevorzugten Modelle war Friedrich. Es gab schon einige Versuche und dieses Bild hier war das neueste, das er gestern begonnen hatte. Aber auch mit dieser Skizze war Johannes nicht zufrieden. Es fehlte etwas, und er konnte nicht richtig sagen, was es war. Es ist der Gesichtsausdruck, dachte er nach längerem Betrachten, etwas, das in Friedrichs Gesicht liegt, habe ich nicht eingefangen. Seinen Trotz vielleicht und diesen Schmerz, der hinter den Augen liegt, und seinen verfluchten Stolz. Aber wie soll ich das ausdrücken? Er vertiefte sich immer mehr in seine Betrachtungen, wusste plötzlich gar nicht mehr, wo er war, und überhörte sogar Geißen-Willis mahnendes Räuspern.
Plötzlich meinte er, ein Messer durchstoße sein Herz, als ihm das Blatt aus den Händen gerissen wurde. Caspar stand vor ihm, er roch nach Zigarrenrauch und fettem Essen und lächelte ihn höhnisch an. »So, Helmbrecht, habe ich dich endlich erwischt! Treibst also Unfug während des Unterrichts. Na, wollen mal sehen ...« Dabei richtete er den Blick auf das Blatt, wohl in der Erwartung, irgendein Gekritzel, »Gesudel«, wie er es manchmal nannte, vorzufinden. Vielleicht sogar eine Karikatur, ein lächerliches Bild von ihm selbst, das ihm Gelegenheit geben würde, eine harte Strafe zu verhängen. Wenn er das Bild nur nicht zerreißt, dachte Johannes. Lieber Prügel. Prügel waren besser, denn die Vernichtung des Bildes würde bedeuten, dass man etwas von ihm, Johannes, der Zerstörung preisgab.
Und es ist ausgerechnet Friedrich, dessen Bild er da in Händen hält! Also habe ich Friedrich nun auch an ihn ausgeliefert! Was wird Caspar wohl denken? Diese Gedanken quälten Johannes so, dass er meinte, er könne es nicht mehr ertragen. Mit gesenktem Kopf wartete er auf das kreischende Geräusch auseinander gerissenen Papiers und auf eine höhnische Bemerkung, zur Klasse hingeworfen, die pflichtschuldigst mit gezwungenem Lachen antworten würde.
Aber es blieb still. Caspar stand reglos, den Blick auf das Bild geheftet, wie Johannes erstaunt feststellte, als er den Kopf etwas hob, weil er diese Stille nicht mehr aushalten konnte. Sie nahm ihm fast die Luft zum Atmen. Mitten in dieses gespannte Warten hinein fiel plötzlich die Stimme von Caspar, sie war heiser und zitterte etwas und er musste sich mehrmals räuspern: »Wer hat das Bild gemalt?«
Johannes war verblüfft. Damit hatte er nicht gerechnet, dass Caspar seine Urheberschaft nicht gleich erkennen würde. Aber er hatte ja auch immer ganz schlechte Bilder bei ihm abgeliefert.
Caspar wiederholte die Frage: »Noch einmal, wer hat das Bild gemalt?«
»Ich, Herr Oberlehrer, ich habe das Bild gemalt.«
Messerscharf kam die Antwort: »Du lügst!«
»Nein, Herr Oberlehrer.« Johannes spürte, wie Zorn und Angst in ihm hochkrochen. Wie sollte er das erklären?
Er wiederholte trotzig: »Ich habe das Bild gestern
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