Beerensommer
geblieben war. Statt Guste zu antworten, zuckte Friedrich nur mit den Schultern. Egal was Johannes machte, es konnte nur verkehrt sein. Verstellte er sich beim Malen, würde Caspar unbedingt wissen wollen, wer das Bild gemalt hatte und wie er zu ihm gekommen war. Und malte Johannes so, wie er es konnte, stellten sich Caspar sicher ein paar andere Fragen.
Mitten in diese Überlegungen hinein öffnete sich die Tür. Sie wurde ganz langsam geöffnet, behutsam und lautlos, dann erschien Johannes’ Kopf im größer werdenden Spalt. Er zwängte sich hinaus, als traue er sich nicht, die Tür weiter aufzumachen, und schloss sie genauso behutsam und lautlos. Für einen Moment blieb er stehen und starrte Friedrich an, aber der merkte gleich, dass er gar nicht richtig schaute. »Er guckt inwendig«, würde die Ahne zu diesem Blick sagen. Dann lief ein leises Zittern durch Johannes’ mageren Körper und er marschierte auf die Treppe los, vorbei an Guste und Ludwig und Otto, die ihm mit weit aufgerissenen Augen nachstarrten. Er bewegte sich wie ein Schlafwandler, setzte mit traumwandlerischer Sicherheit seine Schritte, nahm aber offenbar nichts von seiner Umwelt wahr. Rasch kam Guste zu Friedrich herübergelaufen, der immer noch reglos am gleichen Platz stand.
»Was ist denn mit Johannes, Fritz? Was hat er denn?« Über Gustes schmale, braun gebrannte Wangen liefen dicke Tränen. »Was hat er ihm denn getan?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Friedrich, »mein Gott, Guste, ich weiß es doch nicht.«
Johannes ging ganz gerade, die Wangen waren nicht rot von Schlägen und auch sonst wirkte er nicht wie jemand, der körperliche Schmerzen erlitten hatte. Also hatte Caspar ihn nicht geprügelt, aber was war dann geschehen? Plötzlich rannte Friedrich los, rannte zwei Treppenstufen auf einmal überspringend hinter Johannes her. Gefolgt von Guste und ihren Brüdern, deren nackte Füße so laut auf den Specksteinboden klatschten, dass es im ganzen Schulgebäude hallte. Auf dem Schulhof holten sie ihn ein. Johannes war stehen geblieben und starrte wie ein Träumender auf das spitze Eisengitter, das den Hof umgab.
»Johannes, Johannes, was ist denn?« Friedrich musste sich anstrengen, nicht zu brüllen. Er hatte schon den Arm erhoben, um den Freund zu schütteln, ließ es aber dann doch. Scheu sah er Johannes von der Seite an und merkte mit Schrecken, dass er weinte. Er weinte lautlos, ohne zu schluchzen oder zu zittern. Aber er weinte, richtige Tränenbäche flossen an den Nasenflügeln herab, tropften auf seine Hände, die das Eisengeländer umklammert hielten.
»Johannes, Johannes!« Jetzt war auch Guste herangekommen. »Was hast du? Hat er dich geschlagen? Johannes ...« Auch sie wollte ihn an der Schulter packen, aber Friedrich hielt sie mit einer Handbewegung zurück. Die Kinder starrten auf Johannes’ Rücken, für ein paar Sekunden schien die Zeit still zu stehen und die Welt um sie herum bewegungslos zu verharren. Dann drehte sich Johannes um, ganz langsam, wischte sich das Wasser aus den Augen und schmierte mit dem Handrücken den Rotz weg, der in großen Tropfen an der Nase hing. Er schaute die Freunde an und plötzlich zog ein strahlendes Lächeln über sein Gesicht, als habe er es angeknipst wie eine Lampe. Das Lächeln zog sich über den Mund und die Augen. Vor allem über die Augen, die plötzlich richtig glänzten und nun sehr bewusst auf Friedrich und die anderen blickten.
»Er hat gesagt, ich bin begabt.«
»Was hat er gesagt?« Friedrichs Stimme klang ganz heiser.
»Es hat ihm gefallen, das Bild. ›Du bist begabt‹, hat er gesagt. Und dass ich noch mehr malen soll. Ich soll üben, hat er gesagt.«
» Das hat Caspar gesagt?« Jetzt schrie Friedrich die Frage förmlich heraus. Johannes schaute ihn verständnislos an. »Ja, natürlich! Er hat das Bild angeschaut und dann gesagt, dass ich begabt bin und dass er mich fördern will!« Die letzten Worte stieß Johannes triumphierend hervor. Er betonte jedes Wort, sprach so langsam, als ob er sich selbst noch einmal überzeugen wollte. Die Kinder starrten auf Johannes, diesen strahlenden Johannes, der auf einmal lachte und erzählte, ja, gar nicht mehr aufhören konnte zu erzählen. Dass er Angst gehabt habe, weil das Bild Caspar sehr ähnlich geworden sei, zu ähnlich. Aber Caspar habe es eben gefallen und er habe etwas von »scharfem Blick« und »guter Beobachtungsgabe« gesagt. Und dass er ein »sicheres Gefühl« für etwas habe, das er schon wieder
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