Beerensommer
einen kurzen Moment war es still, nur das Husten von Johannes fuhr in diese Stille misstönend hinein. Friedrich meinte so etwas wie Erstaunen, ja Betroffenheit in den Blicken auszumachen. Es konnte doch nicht sein, dass ein Armenhäusler so etwas zustande brachte! Irgendetwas musste dahinterstecken, nichts Greifbares, etwas, das sich dem Verstand entzog und was man deshalb lieber beiseite schob. Das andere, das Naheliegende aber, damit konnte man etwas anfangen.
»Er hat den Weckerlin gemalt! Guck mal, den Weckerlin – ausgerechnet den Weckerlin!« Die Gruppe löste sich auf, Hände fuchtelten durcheinander, zeigten auf das Bild, das Bodamer immer noch festhielt. Gesichter wandten sich einander zu, Gesichter mit offenen Mündern, die immer wieder das Gleiche schrien: »Er hat den Weckerlin gemalt ... der Helmbrecht und der Weckerlin ...« Und dann schrie der feiste Ludwig Stölzle dazwischen, überschrie sie alle mit seiner schrillen Stimme: »Große Liebe, was? Ein schönes Paar! Malst also deinen Herzallerliebsten ...« Und brüllendes Gelächter antwortete ihm. Plötzlich, in den Lärm hinein, hörte man die kühle, arrogante Stimme Martin Bodamers sagen: »Nun, Weckerlin, was sagst du dazu?«
Alle Gesichter fuhren nun zu ihm herum und Friedrich wurde auf einmal bewusst, dass er immer noch wie angewurzelt an derselben Stelle stand. Er sah in diese Gesichter, die höhnisch, lauernd, verachtend auf ihn gerichtet waren, sah die Münder, halb offen, bereit für weitere Schmähungen. Er sah Johannes, der sich jetzt mühsam aufgerichtet hatte und auf den Knien lag, das Gesicht überzogen mit einer Staubschicht, in die Tränen winzige Rinnen des Schmerzes gegraben hatten. Er sah aber vor allem Martin Bodamers Schuhe: neu, schwarz und glänzend, sah diese Schuhe und fuhr in sie hinein, rasend wie ein Berserker, schier berstend vor Wut und Zorn und Scham. Und während er Fausthiebe und Fußtritte verteilte und um sich schlug und trat, blind und ohne richtig zu sehen, hatte er immer wieder die gleichen Bilder vor Augen, hörte immer wieder die gleichen Geräusche. Nichts von dem, was jetzt gerade passierte, geschah wirklich. Wirklich war nur das Feuer auf dem Platz, hier in einer windigen Septembernacht, das erschöpfte Gesicht der Mutter und die Hände der Frau Mössinger, die ihm eine Hand voll Kartoffeln zustecken wollte. Wirklich, das waren seine nackten Füße und die Schuhe dort, die schwarzen, glänzenden Schuhe aus Leder!
Für einen kurzen Moment kam ihm die Überraschung der anderen über seinen plötzlichen Angriff zugute. Er konnte einige zu Boden werfen und Martin Bodamer sogar das Bild aus der Hand reißen! Aber dann fielen sie über ihn her, es waren ja so viele. Sie packten ihn an Armen und Beinen, hängten sich an seinen Oberkörper, der dicke Stölzle biss ihn sogar in die Hand. Sie hingen an ihm wie Wölfe an einem Stück Aas, das es zu verteilen galt, zwangen ihn zu Boden und traten ihn, traten ihn in die Seite, auf den Rücken, traten ihn mit ihren schönen, blank geputzten, glänzenden Schuhen.
Von Guste und den Mühlbeck-Buben war keine Hilfe zu erwarten. Sie hatten sich, mit dem geschärften Instinkt der Gossenkinder ausgestattet, schnell verkrochen, waren hinter der Eckwand der Kiefer’schen Bäckerei verschwunden und Johannes kniete immer noch hustend und würgend auf dem Boden.
Martin Bodamer hatte Friedrich das Bild wieder aus der Hand gewunden und begann es nun zu zerreißen. Systematisch riss er es in kleine Schnipsel, die er über Friedrich rieseln ließ, und sagte dann ein obszönes Wort, das die anderen aufgriffen, skandierten und ihn dabei rhythmisch mit Fußtritten traktierten. Friedrich spürte merkwürdigerweise keine Schmerzen, nichts davon schien wirklich zu passieren und auch die Geräusche drangen nur von ganz ferne zu ihm her. So erreichte das Wort sein Gehirn erst, als die anderen über ihm schon verstummt waren.
Im Pfarrhaus, einem großen Fachwerkbau direkt am Lindenplatz, hatte sich nämlich ein Fenster geöffnet und der schlohweiße Kopf des Herrn Pfarrer war im Fensterrahmen erschienen. Fast wie Gottvater blickte er auf das Geschehen weit unter ihm. Offenbar schien ihm das Schimpfwort schlimmer als die Prügelei, denn er rief drohend: »Wenn ihr nicht augenblicklich ruhig seid, konfirmiere ich euch nicht!«
Das war allerdings eine starke Drohung. Und selbst wenn es dem Herrn Pfarrer vielleicht so ernst nicht damit war, riskieren wollte man lieber nichts. Also ließ
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