Beerensommer
Wort zu führen. Friedrich erkannte ihn sofort an der Stimme. Das war Martin Bodamer, der ehemalige Freund, und die anderen waren auch alte Bekannte. In ihrer Mitte hatte er einst in den hinteren Bänken der Volksschule gesessen. Damals, vor unendlich langer Zeit. Sie trugen Anzüge aus feinem dunklen Tuch und Hemden mit schneeweißen hohen Kragen.
Er hatte auch solche Kleider besessen, damals, aber jetzt passten sie nicht mehr, sie lagen sorgfältig gewaschen in einer Schublade der alten wurmstichigen Kommode in der Stadtmühle und warteten auf Wilhelm, der sie einmal tragen sollte. Sie hatten Pennälermützen mit dem gelben Band der Quartaner auf. Friedrich hatte davon geträumt, auch einmal eine solche Mütze zu bekommen, in einer kurzen Zeit in jenem Sommer, vor dem September, in dem alles zu Ende ging. Er sah an sich herunter. Die kurze Hose war ihm viel zu weit, er hatte sie mit einem Strick fest umgürtet, sie war ein Geschenk des Großvaters. An den Knien war sie durchgescheuert gewesen und Mutter hatte sie einfach abgeschnitten und gemeint, das sei jetzt seine Sommerhose. Der Saum, den sie umgenäht hatte, war fürchterlich schief und viel zu grob genäht. Die Frau des Handwerkermeisters Friedrich Weckerlin war nie geschickt mit der Nadel gewesen. Schließlich hatte sie es früher nicht nötig gehabt zu nähen, dafür ließ man Leute kommen, wie beispielsweise die Ahne. Auch das graue Baumwollhemd, das Friedrich trug, wies viele solcher groben Stopfereien auf. Aber das Schlimmste war, dass er barfuß ging!
Friedrich blickte kurz auf seine braun gebrannten Füße. An den Fersen hing dunkler Schmutz in den Rillen der dicken Hornhaut. Unwillkürlich krümmte er die Zehen nach innen, als könnte er so die Füße kleiner, unsichtbar machen. Aber er wollte sich nichts anmerken lassen. Stolz warf er den Kopf nach oben und machte sich daran, an der Gruppe vorbeizugehen, die in der Zwischenzeit die Näherkommenden bemerkt hatte und plötzlich verstummte. Er wollte vorbei und keinen Zentimeter weiter nach rechts rücken. Mitten durch sie hindurch wollte er gehen und alle Schmähungen ohne mit der Wimper zu zucken ertragen. Aber dazu kam es gar nicht. Johannes hatte ihn überholt und rannte in seiner unbändigen Freude an ihnen vorbei, ohne sie recht zu bemerken. Da packte ihn der hochgewachsene, breitschultrige Wilhelm Gutbrod und hielt ihn erbarmungslos am Genick fest.
»Da ist ja unser großer Künstler. Wir haben schon davon gehört. Zeig einmal dein Bild her!«
Johannes sträubte und wand sich unter dem festen Griff. Er zappelte und versuchte verzweifelt, den starken Händen Wilhelm Gutbrods zu entkommen. Aber Gutbrod packte nur noch fester zu und stieß Johannes unter dem grölenden Gelächter der anderen nach unten, sodass er auf die Knie fiel. »Los, das Bild her!«, schrie er noch einmal und die anderen stimmten brüllend zu: »Bild her, Bild her!«
Johannes versuchte blitzschnell seitlich auszuweichen, aber Wilhelm Gutbrod versetzte ihm einen Fußtritt, sodass er endgültig auf der Erde lag. Martin Bodamer hob seinen rechten Fuß und drückte ihn mit dem Absatz seiner schwarzen ledernen Schuhe nieder. Verzweifelt wand sich Johannes auf dem Kopfsteinpflaster, wand und krümmte sich wie eine Schlange, aber vergeblich. Der schwarze Schuh saß fest in seinem Rücken, drückte ihn entschlossen nieder.
Dieser schwarze Schuh! Nichts anderes konnte Friedrich in diesem Moment wahrnehmen! Dieser glänzende, blank geputzte, schwarze Schuh wurde in diesem Moment für ihn ein Symbol der Macht, der Herrschaft von denen da über die anderen, die im Dreck lagen und Staub fressen mussten. Er hatte einmal zu denen gehört, damals. Jetzt gehörte er zu jenen, die wie Johannes im Dreck lagen und den Staub fraßen.
Bewegungslos stand er da und sah Johannes sich winden. Einige hatten sich an Johannes’ alter Tasche zu schaffen gemacht und holten schließlich unter Triumphgeheul ein sorgfältig zusammengerolltes Stück Papier hervor, das sie an Martin Bodamer weitergaben. Der zog plötzlich den Fuß weg, aber Johannes blieb wie betäubt liegen, als merke er gar nicht, dass der Schuh ihn nicht mehr unten hielt. Schließlich hustete er und richtet den Kopf etwas auf. Es sah aus, als bekomme er keine Luft mehr. Er hustete und würgte und versuchte den Dreck und den Staub aus sich herauszubekommen.
Oben an der Bank steckten Köpfe zusammen, sie hatten sich über das Papierblatt gebeugt, das Martin in den Händen hielt. Für
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