Beerensommer
man vom Opfer ab, klopfte sich den Staub von der Hose, sammelte die Mützen wieder ein und setzte sie ganz korrekt auf, um sich dann in kleinen Grüppchen nach Hause zu trollen.
Friedrich blieb am Boden liegen. Jetzt erreichte ihn der Schmerz, durchflutete in Wellen den ganzen Körper, der eine einzige Wunde zu sein schien. Klopfend pulste der Schmerz immer höher und er musste sich würgend erbrechen. Er konnte kaum den Kopf heben und berührte mit dem Gesicht immer wieder sein eignes Erbrochenes, bis er auf einmal spürte, dass ihm jemand sanft den Kopf hielt. Er blinzelte hoch und sah in Johannes’ Augen, diese merkwürdig hellen Augen, die jetzt wieder klar blickten, obwohl sein Gesicht noch ganz verschwollen war. Lange sagten beide Jungen nichts. Johannes hielt seinen Kopf sanft, aber fest, und nach einer Weile hörte das Spucken und Würgen auf und Friedrich versuchte sich mit Johannes’ Hilfe aufzurichten. Es ging mühselig, aber es ging und dann hing Friedrich schief an den schmächtigen Schultern von Johannes, der wundersamerweise unter dieser Last nicht einknickte. Auf einmal war Guste wieder da und schob Friedrichs anderen Arm hinter ihren Nacken. Ludwig und Otto waren ebenfalls hergekommen und sammelten mit der für die Mühlbecks typischen Sorge um die materiellen Dinge den Ranzen von Friedrich und die Tasche von Johannes ein.
So zog die kleine Prozession hinüber zur Stadtmühle, sie kamen nur langsam voran, denn immer wieder knickten Friedrichs Beine ein. Aber schließlich hatten sie die verwitterte Tür erreicht, als Friedrich plötzlich abwehrend eine Hand ausstreckte.
»Nicht zur Mutter«, presste er mühsam zwischen den aufgeplatzten Lippen hervor. Johannes nickte. Sie schafften ihn schließlich die Treppe hoch in sein Zimmer. Die Ahne war irgendwohin zum Putzen gegangen, also hatten sie Ruhe. Friedrich streckte sich auf Johannes’ Bett aus, die Sprungfedern stachen ihm unangenehm in den wunden Rücken, aber die Ruhe und die Dunkelheit im Zimmer taten ihm gut. Johannes hatte in der Zwischenzeit die Läden geschlossen, Guste und die Buben nach unten gescheucht und frisches Wasser geholt. Er kramte in der Schublade, wo die Ahne ihre kümmerliche Wäsche aufbewahrte, und brachte einige karierte Taschentücher zutage. Damit wusch er sanft Friedrichs Gesicht ab und legte dann eines der nassen Tücher auf seine Stirn. Friedrich lag da mit weit geöffneten Augen. Er betrachtete die fleckige, graue Zimmerdecke über ihm und versuchte die Wellen des Schmerzes zu ignorieren.
Jetzt gehöre ich endgültig hierher, dachte er plötzlich. Nun haben sie mich auch noch hinausgeprügelt aus dem Kreis von ihresgleichen! Ich bin nun wirklich ein Armenhäusler, einer aus der Stadtmühle, und er dachte an die Schuhe und die Tritte, die nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele verletzt hatten. Oben am Kopf spürte er eine sanfte Bewegung. Johannes hatte sich zu ihm gesetzt und strich ihm über die Haare. Friedrich dachte an das Schimpfwort und drehte unwillig den Kopf zur Seite. Aber Johannes ließ sich nicht beirren. »Danke«, flüsterte er nach einer Weile.
»Danke wofür?«
»Dass du dich für mich geprügelt hast. So mutig warst du. Einer gegen so viele.«
Friedrich schloss die Augen. »Ich habe es auch für damals getan.«
»Damals?«
»Damals in der Nacht. Auf dem Lindenplatz. Als du mir die Decke gebracht hast.«
Wortlos drückte ihm Johannes die Hand. Eine Weile war es still, zu still für Friedrich, auf dem das Schweigen plötzlich drückend lastete. Er wusste plötzlich, dass das nur ein Teil der Wahrheit war! Aber die ganze Wahrheit konnte er Johannes nicht sagen, er würde es wohl nicht verstehen, denn er hatte in diesem Augenblick an die Schuhe und seine verlorene Welt gedacht.
10
Anna ist nach dem Mittagessen gleich wieder hinaufgeschlüpft in die Dachkammer, obwohl Gretl meinte, sie wolle sich doch sicher im Dorf umsehen.
»Und den Schlüssel zum Haus kann ich dir auch geben. Kannst ja schon mal einen Blick hineinwerfen.« Sie war bereits dabei, sich schnaufend zu erheben und hinüberzugehen zum bunt bemalten Schlüsselbrett. Aber Anna hat abgelehnt. Irgendeine seltsame Scheu hindert sie daran, diese Orte aufzusuchen, die eine so wichtige Rolle im Leben ihrer Familie spielen, obwohl sie wirklich neugierig ist. Ich muss mehr wissen, denkt sie, muss zuerst diese schmalen Hefte lesen, dann weiß ich, was mich erwartet.
Am Nachmittag kommt schließlich »der Junge«. Anna hört
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