Beerensommer
dunklen, unergründlichen Augen.
Am nächsten Abend wusch sich Johannes besonders gründlich am Spülstein in der Küche. Er steckte den Kopf unter das kalte Wasser und bearbeitete Haare und Haut mit einem Stück grober Kernseife. Sie hatten Holz geholt, denn mit dem Beerenlesen war es fast vorbei, nur auf die späten Brombeeren konnte man noch hoffen. Dürres Steckenholz durften sie aus den Wäldern holen, es waren meist dünne Äste, die abgebrochen waren. Die Förster waren froh darum, denn dieses Holz war die reinste Brutstätte für Borkenkäfer.
Jetzt lagen die Äste sauber aufgeschichtet auf dem Hof der Stadtmühle und vor einer guten halben Stunde hatte sich der alte Mühlbeck, der halbwegs nüchtern war, sogar darangemacht, die Stecken mit einem Beil in handliche Stücke zu hauen. Die Mühlbeck-Kinder sprangen um ihn herum und schichteten die Holzscheite säuberlich an der Hauswand auf. Der Winter war die schlimmste Zeit in der Stadtmühle. Die kümmerlichen, kleinen Öfen verbreiteten nie genug Wärme, um die Feuchtigkeit und die Kälte aus den Zimmern zu vertreiben. Das dürre Steckenholz brannte schnell ab, deshalb war es wichtig, ab dem Spätsommer so viel wie möglich davon heranzuschaffen.
Die Mühlbecks hatten kurz vorher erfahren, dass Johannes nicht mithelfen könne, weil er beim Oberlehrer Caspar eingeladen sei. Der Guste war vor Staunen der Mund offen geblieben und die Jungen hatten wie zu erwarten einige anzügliche Bemerkungen gemacht. Sogar in das alkoholumnebelte Gehirn des alten Mühlbeck war die unerhörte Tatsache durchgedrungen, denn er hatte Johannes nachgeschrien: »Wirst wohl vornehm, was!«, und dabei meckernd gelacht.
Johannes hatte die Bemerkungen schweigend hingenommen, als er aber um die Ecke der Stadtmühle bog, hielt er für einen Moment erstaunt inne. Friedrich stand da, misstönend pfeifend und mit einem Haselnussstecken bewaffnet.
»Was willst du?«, fragte Johannes misstrauisch. Für einen Moment fürchtete er, Friedrich wolle ihn am Weitergehen hindern.
»Glaubst du, ich lass dich allein zum Haus von Caspar gehen? Wenn der Bodamer dich sieht oder die anderen – seit damals ist immer noch eine Rechnung offen!«
Friedrich setzte sich in Bewegung. Er ging voran, ohne darauf zu achten, ob Johannes ihm folgte. Der stand immer noch da, aus lauter Verblüffung und auch weil er sich schämte, dass er dem Freund so misstraut hatte. Nun trottete er langsam hinterher und mit jedem Schritt löste sich eine Anspannung, die er vorher gar nicht bewusst wahrgenommen hatte. Sie machte einer immer größer werdenden Freude Platz, die ihn richtiggehend durchflutete. Jetzt war alles gut, es war gerade so, wie es sein musste! Friedrich Weckerlin, der Freund und Beschützer, ging voraus und er folgte ihm und fühlte sich sicher und geborgen hinter diesem starken Rücken. Groß war er geworden, der Freund, aber er war nicht nur in die Höhe geschossen in diesem Sommer, sondern hatte auch starke Muskeln bekommen, war breit in den Schultern geworden, trotz der unzureichenden Kost.
»Ich weiß gar nicht, wo er’s hernimmt«, hatte Frau Weckerlin einmal zu Lene gesagt, als diese eine entsprechende Bemerkung gemacht hatte. Und Johannes hatte sich damals unwillkürlich gedacht, dass Friedrich sich wohl von seinem Zorn und seinem Stolz ernährte.
Sie bogen in die Herrengasse ein, wo man nicht mehr auf den Weg achten musste, denn dort gab es keine stinkenden Kuhfladen, die Leute, die hier wohnten, brauchten keine Kühe zu halten. Immer noch ging Johannes dicht hinter Friedrich, er konnte selbst kaum sagen, warum er kein Gespräch begann, auch Friedrich war merkwürdig still. Er stapfte auf dem Weg voran, als koste es ihn eine besondere körperliche Anstrengung, als laufe er nicht auf einer ebenen Straße, sondern bezwinge einen schier unüberwindlichen Berg. Johannes wusste, warum! Dort drüben stand das Weckerlin-Haus, Friedrichs ehemaliges Zuhause. Fremde Leute wohnten jetzt darin, die Tochter des Bauunternehmers Bodamer, die vor Kurzem geheiratet hatte. Sie war die ältere Schwester von Martin und der hatte überall damit geprahlt, dass sein Vater das Haus sehr günstig von den Gläubigern gekauft habe. Damit die »wenigstens noch etwas Geld sehen«, hatte er herumgetönt, um es dann der ältesten Tochter zur Hochzeit zu schenken. Aus den Augenwinkeln musterte Johannes das stattliche Haus. Neue Gardinen hingen an den Fenstern, neben der Eingangstür war ein großer Holzkübel mit
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