Beerensommer
wissenschaftliches Werk schreiben. Vater hat die entsprechenden Unterlagen in seinem Nachlass gefunden. Wahrscheinlich wollte er im Ruhestand daran arbeiten. Aber dazu ist es, jetzt muss ich fast sagen, Gott sei Dank, nicht mehr gekommen. Er ist 1920 an einem Gehirnschlag gestorben. Er hat wohl den Zusammenbruch des Kaiserreichs nicht richtig verkraftet und kam mit der neuen Zeit nicht zurecht. Jedenfalls hat er damals, nachdem er auf Johannes aufmerksam wurde, mit großem Eifer begonnen, die Familiengeschichte deines Urgroßvaters zu erforschen. Aber da gab es wenig Gesichertes, vor allem im Hinblick auf den unbekannten Vater.«
»Und«, fällt ihm Anna ganz aufgeregt ins Wort, »hat er nicht doch irgendetwas ...?«
»Spekulationen, Anna, nichts als Spekulationen! Es war ja auch eine fixe Idee von ihm, dass ein Stadtmühlenkind, der uneheliche Sohn der Anna Helmbrecht, von irgendwoher einen ›göttlichen Funken‹, wie er es genannt hat, bekommen haben muss.«
»Und was sind das für Spekulationen?«
Richard zögert etwas. »Um die Jahrhundertwende wurde in Grunbach eine Kanalisation angelegt und Lindenplatz, Kirchplatz und Herrengasse und einige andere Straßen wurden gepflastert. Mit dieser Arbeit wurden die Gebrüder Bodamer beauftragt, die größte Baufirma am Ort. Die Bodamers haben für die Steinmetzarbeiten italienische Hilfskräfte angeheuert, die darin geschickt und erfahren waren. Das war natürlich eine kleine Sensation für das verschlafene Grunbach, wo diese dunkelhaarigen und seltsam daherredenden Männer wie exotische Tiere bestaunt wurden. An einen Vorarbeiter erinnerten sich die alten Grunbacher ganz besonders und von dem haben sie auch meinem Großvater erzählt. Das sei ein außergewöhnlich freundlicher und fröhlicher Mann gewesen, der sich von den anderen deshalb abhob, weil er hellbraune Haare und merkwürdig helle Augen gehabt habe. Mit den Grunbacher Mädchen hat er gerne geschäkert und wahrscheinlich hat es auch Gerede gegeben, als die Anna dann dieses uneheliche Kind mit den merkwürdigen hellblauen Augen geboren hat. Aber das waren, wie gesagt, nur Spekulationen. Etwas Konkretes hat keiner gewusst und so hörte das Geschwätz auch bald auf, vor allem weil die Italiener schon einige Monate vor Johannes’ Geburt mit ihren Arbeiten fertig waren und keiner sich je wieder blicken ließ, auch nicht der mit den hellen Augen. Der alte Caspar war aber felsenfest davon überzeugt, dass das der Gesuchte sein müsse, denn das Ganze passte ja wunderbar in seine Rassetheorien.«
Mit heißen Ohren hört Anna zu. Das ist wirklich spannend! Nur das Letzte, was Richard gesagt hat, kapiert sie nicht und fragt noch mal nach.
»Na, überlege mal, Anna. Solchen Pseudowissenschaftlern ging es doch vor allem darum, die Überlegenheit der germanischen Rasse zu beweisen. Also war dieser Helläugige für meinen Großvater entweder ein Abkömmling der alten Völkerwanderungsstämme oder eines Ritters im Gefolge der Stauferkaiser oder was weiß ich. Auf jeden Fall musste es sich um einen Nachfahren der alten Germanen handeln, in dem sich das genetische Erbe auf ungewöhnlich deutliche Art und Weise zeigte. Daher hatte Johannes, wie er annahm, also das Talent.« Richard grinst. »Wenn man mal diesen Germanen-Quatsch weglässt, ist es logisch anzunehmen, dass der Mann Norditaliener war, bei denen in der Tat die Gene der alten Eroberer vorhanden sind. Ich finde den Gedanken ganz charmant, dass dieser imaginäre Ururgroßvater vielleicht ein entfernter Verwandter der Buonarottis oder der Da Vincis war, was meinst du, Anna? Aber wie gesagt, das Ganze ist reine Spekulation.«
Anna lächelt. »Einen italienischen Ururopa fände ich wunderbar.« Sie zögert. »Aber er hat die Anna einfach sitzen lassen, sich nie mehr um sie gekümmert. Und sie hat ihn nie verraten. Warum wohl?«
»Vielleicht hat er ihr eingeschärft nichts zu sagen. Irgendwelche Versprechungen gemacht. Und sie hat ihm geglaubt, weil sie in ihn verliebt war. Bedenke, sie ist im Kindbett gestorben, bestimmt hätte sie später Johannes von seinem Vater berichtet. Vielleicht war er auch ganz einfach ein Hallodri, der woanders schon Frau und Kinder hatte. Viele vielleicht, Anna. Wir wissen es einfach nicht.«
»Aber es könnte gut sein. Eine Sache wäre mir dann etwas klarer.«
»Wie meinst du, Anna?«
»Die ganze Zeit frage ich mich, was er am ›Taugenichts‹ gefunden hat. Der Johannes, meine ich. Wahrscheinlich hältst du mich jetzt für
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