Beerensommer
Gewissen!
Dem toten Wilhelm hatte Johannes heute Morgen ein Bild in den Sarg gelegt – er hatte es Friedrich gezeigt. »Es ist nicht besonders gut geworden. Deine Mutter, Emma und du, aus dem Gedächtnis gezeichnet. Aber so seid ihr immer bei ihm.«
Eines Tages würde er ihn auf diese Malerschule schicken und dann brauchte Johannes nur noch zu malen. Sie würden in der Welt herumreisen, genauso wie dieser Taugenichts, und Johannes würde alles malen. Und so würde aus dem Zorn und der Wut und dem Hass das Gute entstehen! Das wusste er besser als sein Freund!
»Leb wohl, Wilhelm«, flüsterte Friedrich, als die schweren Erdklumpen auf den kleinen Sarg polterten. »Jetzt kann ich nichts mehr für dich tun. Aber ich sorge für Mutter und Emma. Ich verspreche es dir. Und du bekommst eines Tages den schönsten Grabstein weit und breit.«
15
Das Handy liegt jetzt ausgeschaltet auf dem schmalen Nachttisch. Gleich nach ihrer Ankunft in Grunbach hat Anna einige SMS an Pia, Sanne und Gianni verschickt und seitdem kommen unaufhörlich Anrufe rein. Das ewige Piepsen ist ihr dermaßen auf den Geist gegangen, dass sie das blöde Ding einfach ausgemacht hat. Und das bleibt in den nächsten Tagen auch so!
Sie hat jetzt einfach keinen Nerv, mit ihren Freunden aus Berlin zu sprechen, mit Pia beispielsweise, die auf einmal so einen mütterlich-besorgten Nörgelton draufhat. Aber auch mit Sanne, ihrer besten Freundin, mag sie nicht reden. Ich weiß selbst nicht so recht, warum, denkt Anna. Oder mit Jan, dem netten Zivi aus dem Krankenhaus. In letzter Zeit hat er ziemlich oft angerufen und zu flirten angefangen. Aber wie flirtet man mit jemandem, dessen Mutter im Sterben liegt? Das ist wohl die Preisfrage gewesen. Eigentlich ist er wirklich nett und hat sie ab und an zum Lachen gebracht.
Irgendwie hat Anna ein schlechtes Gewissen. Sie machen sich doch alle nur Sorgen um mich – und ich, was mach ich? Eigentlich bin ich richtig undankbar. Aber irgendwie ist Berlin auf einmal so weit weg, wie ein fernes Land,von dem man zwar ein paar schöne Eindrücke mitnimmt, das aber mit dem wirklichen Leben nichts zu tun hat. Und das wirkliche Leben findet jetzt hier, in diesem kleinen Schwarzwaldkaff, statt, in dieser altertümlichen Stube mit dem Geruch nach Mottenkugeln und Lavendel, in diesem kleinen Kosmos der Vergangenheit, in den sie mehr und mehr eintaucht.
Dieses Gefühl, in einer eigenen Wirklichkeit zu leben, hat Anna schon einmal kennengelernt, in der Zeit, als das Krankenhaus ihr eigentliches Zuhause war. Ein halbes Jahr vor Mamas Tod haben ihr die Ärzte eröffnet, dass es keine Hoffnung mehr gab. Sie sind nett und freundlich gewesen, richtig lieb, aber die Botschaft wurde davon nicht besser. »Metastasen. Überall, Anna.« Und dann fiel das Wort »austherapiert«, was für ein schreckliches Wort! Noch am selben Tag ist sie zum Gymnasium marschiert, direkt ins Rektorat, und hat die Schule geschmissen!
»Wollen Sie sich das nicht noch einmal überlegen?«, hat die Frau Oberstudiendirektorin Dr. Wagner gemeint, etwas von »so kurz vor dem Abitur« gefaselt, aber sie hat nur kurz und entschieden geantwortet: »Ich kann meine Mutter jetzt nicht alleine lassen.« Und dann hat sie sich selbst in eine neue Umlaufbahn geschossen, kreisend um den Planeten »Krankenhaus Charité«, und der Funkkontakt zur Erde ist auf ein Minimum reduziert worden. Nur Sanne rief unaufhörlich an, lud sie ein, brachte Pizza vorbei, wenn sie abends müde und erschöpft in die Wohnung zurückkehrte und dann noch stundenlang durch das Fernsehprogramm zappte, weil sie Angst vor dem Einschlafen hatte, Angst vor dem nächtlichen Klingeln des Telefons!
»Kommen Sie schnell, Ihre Mutter ...«
Sie darf nicht ungerecht gegenüber ihren Freunden sein, was sollen die auch anfangen mit einer, die keine Zeit hat und nichts von dem tut, was einem selber wichtig ist: Disco, shoppen gehen, Latte macchiato im Café Einstein trinken und so weiter. Das ist alles vorbei gewesen, auf einen Schlag – und dabei hat sie noch nicht mal richtig damit angefangen! Immerhin: Ihre Mama hat sie nicht im Stich gelassen – wenigstens eine kleine Genugtuung.
Unten hört sie Gretl rumoren. Gleich ist Mittagessenszeit. Linsen und Spätzle hat sie sich gewünscht, ob das Gretl nicht zu viel sei, hat sie gefragt. Aber die hat nur den Kopf geschüttelt. »Das geht immer, nur die Spätzle bekomme ich nicht mehr alleine hin, keine Kraft mehr in den Händen.« Gerade vorhin hat Fritz
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