Beerensommer
den Baumwipfeln. Der Nebel würde bald niedersteigen und sich klamm und feucht in den Kleidern festsetzen. Es war schon ganz dunkel, aber er fürchtete sich nicht, den Weg kannte er in- und auswendig und hinter der nächsten Biegung waren schon die Lichter von Grunbach zu sehen.
So friedlich war alles, aber draußen tobte der Krieg, der die Bäuche der Kinder auftrieb und tiefe Runen der Sorge und Entbehrung in die Gesichter der Frauen grub. Und wieder lag ein Winter vor ihnen und das Ende des Krieges war nicht in Sicht. Zwar munkelte man wieder einmal von einer großen Offensive, die bald den endgültigen Sieg Deutschlands über seine Feinde bringen würde, aber viele glaubten nicht mehr daran. Die meisten Menschen waren einfach mit dem täglichen Überleben beschäftigt! Seit die wichtigsten Lebensmittel rationiert und nur noch auf Marken zu bekommen waren – genau wie die Ahne es prophezeit hatte –, war es noch schlimmer geworden. Nur wer Geld hatte, konnte sich auf mehr oder weniger krummen Wegen alles besorgen. Aber wer hatte schon Geld in dieser Zeit? Die vor allem, die mit dem Krieg ihre Geschäfte machten.
Und nun stand der vierte Kriegswinter bevor und es war noch lange nicht genug Brennholz in der Stadtmühle. Seit Friedrich, Guste und Johannes arbeiteten, lag diese Last ausschließlich auf den Schultern von Frau Weckerlin und der Ahne. Auch die Preise für die Kräuter und die Beeren waren stark gesunken. In den Sommermonaten waren Friedrich und Johannes nach der Arbeit in den Wald gegangen und hatten bis spätabends welche gesammelt. Aber die zahlungskräftigen Kunden, die das Badhotel und die Cafés in Wildbad besuchten, waren immer weniger geworden. Die Ahne jammerte zudem, dass man sie kaum mehr zum Waschen und Putzen holte, überall musste gespart werden. Sie hatte viel Kraft verloren in diesen Kriegsjahren, lag oft wie eine verhutzelte Zwetschge auf ihrem Strohsack und blättertemit ihren knotigen Fingern in ihrer Bibel. Manchmal dachte Johannes, dass es nur noch die Sorge war, die sie am Leben erhielt, die Sorge um ihn, die Sorge, ein Brief würde in der Stadtmühle abgegeben werden, ein ganz bestimmter Brief.
Als Johannes den Weg unterhalb der Leimenäcker betrat, der sich mit der Bahnlinie kreuzte, sah er im Lichtschein, das aus dem Bahnwärterhäuschen fiel, eine Gestalt stehen. Er verharrte für einen Moment zögernd, aber dann bemerkte er, dass es Friedrich war, der angestrengt in das Dunkel spähte.
»Fritz!«, rief Johannes und setzte sich in Bewegung, rannte die letzten Meter auf Friedrich zu. »Du holst mich ab? Ist etwas passiert?« Er packte den Freund und starrte ihm im Schein des Lichtkegels forschend ins Gesicht. »Ist etwas mit der Ahne?«
»Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Das heißt ...« Friedrich zögerte und zog den Freund aus dem Lichtschein des Häuschens. »Ich wollte dich vom Bahnhof abholen, aber als du nicht ausgestiegen bist, habe ich mir gleich gedacht, dass du aus Richtung Hofen kommst. Da bin ich dir entgegengegangen.«
»Ich wollte durch den Wald laufen.«
Wortlos nickte Friedrich. Er kannte Johannes’ Sehnsucht und er wusste auch, dass sich der Freund in der Fabrik oft wie eingesperrt fühlte.
Ungeduldig fragte Johannes nach: »Also, was ist geschehen? Spann mich nicht länger auf die Folter.«
Für einige Minuten lag eine bedrückende Stille über den beiden. Offensichtlich fiel Friedrich die Mitteilung doch schwerer als erwartet. Sie waren in der Zwischenzeit weitergegangen und hatten die untere Enzbrücke erreicht. Weiter unten, dort am Wehr, hatte man Friedrichs Vater aus dem Fluss gezogen. Wahrscheinlich dachte der Freund gerade daran und Johannes scheute sich, diese gespannte Stille zu durchbrechen. Umso mehr erschrak er, als Friedrich unvermittelt sagte: »Der Brief ist gekommen!«
Das also war die Nachricht. Und irgendwie hatte er es gewusst, hatte es seit dem Moment gewusst, als er Friedrich vor dem Bahnwärterhäuschen gesehen hatte.
Johannes stand bewegungslos am Brückengeländer und starrte auf die ruhig dahinfließende Enz hinunter. Der Schreck verflüchtigte sich, das Herz schlug wieder ruhiger und er spürte merkwürdigerweise so etwas wie Erleichterung und sogar Freude. Friedrich war extra gekommen, um ihm das zu sagen, ihn vorzubereiten auf den Anblick der Ahne, die jetzt wohl heulend und wehklagend im Zimmer saß. Er sah verstohlen den Freund von der Seite an, der mit fest aufeinander gepressten Lippen sehr aufrecht neben ihm
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