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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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Abwechslung ein paar halb verfaulte Kartoffeln.
    In der Stadtmühle hatte das nackte Elend geherrscht, vor allem bei den Mühlbecks, nachdem Ludwig, der eigentliche Ernährer, in den Krieg gezogen war und der Alte sich tagelang gar nicht mehr aus dem Bett erhoben hatte. Das Saufen hatte unerbittlich seinen Tribut gefordert und wer das zitternde, bis auf die Knochen abgemagerte Häufchen Elend sah, konnte sich kaum vorstellen, dass dieser Mensch einmal Bärenkräfte besessen hatte, dass alle vor ihm gezittert hatten, wenn er seine berüchtigten Tobsuchtsanfälle bekam. Nur sein Selbstmitleid und seine Weinerlichkeit waren geblieben. Vor Friedrichs Auge tauchte in diesem Moment sein eingefallenes Gesicht mit den grauen Bartstoppeln und den trüben gelben Augen auf und der zahnlose Mund lallte etwas vom »Heldensohn«, der jetzt so tapfer seinen Dienst für Kaiser und Vaterland verrichtete. »Schöner Heldensohn«, hatte Friedrich letzthin abfällig zu seiner Mutter gesagt, »wahrscheinlich muss man aufpassen, dass er nicht die Regimentskasse klaut und die Schnapsvorräte versäuft.« Er sei gehässig, hatte sein Mutter dann bemerkt und sie hatte wohl recht, aber er verachtete dieses Pack mit Ausnahme von Guste, die mit ihren paar Pfennigen die Familie vor dem Verhungern bewahrte.
    Wenn der Krieg endlich aus sei, würde sie über alle Berge gehen, hatte sie ein ums andere Mal gesagt, wenn sie abends in der Küche zusammensaßen. Sie hockten vor dem Ofen, bemüht, so viel wie möglich von der kümmerlichen Wärme aufzunehmen. Auch Frau Weckerlin, Lene und die Mädchen waren meist dabei und natürlich die Ahne, die in diesem Winter noch mehr geschrumpft schien. Mit dem Waschen und Putzen war es nun ganz aus, kaum eine Familie konnte sich noch ihre Dienste leisten und die ganz reichen Leute hatten eigene Dienstboten. Sie lebte vom Sold, den Johannes ihr zuschickte, obwohl man das nicht »leben« nennen konnte, denn für das kümmerliche bisschen Geld bekam man fast gar nichts mehr.
    Johannes war irgendwie immer noch da, war unter ihnen, denn unentwegt sprachen sie von ihm und Friedrich musste seine Briefe vorlesen, immer und immer wieder. Es waren ganz verhaltene Briefe, aber hinter den Zeilen konnte man in diesen dürren formelhaften Worten doch etwas von seiner Angst spüren. Aber sie vermochten es sich nicht richtig vorzustellen, wie das da draußen war, ihr eigenes Elend war gegenwärtiger.
    Er war nicht gleich an die Front abkommandiert worden, musste aber Nachschub und Wasser in die vorderen Linien bringen, und das sei auch nicht ungefährlich, schrieb er. »Wenn der Beschuss durch die französischen Soldaten zu stark ist, kommen wir nicht nach vorne, und das ist schlimm für unsere Männer. Sie werden beinahe verrückt vor Durst. Manchmal trinken sie sogar ihren eigenen Urin! Die Teiche und Granattrichter sind voller Leichen, die stinken und verwesen, und dieses Wasser sollen die Soldaten trinken. Alles schmeckt hier nach Tod, sogar die Luft.«
    Alle hatten sich geschüttelt, als Friedrich diese Passage des Briefes vorgelesen hatte. »Leichenwasser und Pisse trinken«, sagte Lene kopfschüttelnd, »das muss man sich mal vorstellen.«
    Aber sie konnten es sich nicht vorstellen und so klammerten sie sich an die einzige Tatsache, die wichtig war, dass er lebte, dass er schreiben konnte.
    Die Mühlbecks bekamen keine Briefe von Ludwig und schickten ihm auch keine, denn er konnte weder lesen noch schreiben. Er war in einen anderen Frontabschnitt gekommen und Johannes hatte seit ihrer gemeinsamen Zugfahrt nach Stuttgart nichts mehr von ihm gehört. So mussten sie sich darauf beschränken, von Tag zu Tag zu leben, in der Hoffnung, dass keiner vor der Tür stehen würde, etwa der Herr Pfarrer oder einer vom Gemeindeamt, denn das verhieß nichts Gutes.
    In Friedrichs Hosentasche knisterte jetzt immer der letzte Brief, den Johannes geschrieben hatte, er bewahrte sie alle auf und den jeweils letzten trug er bei sich und hütete ihn wie einen Glücksbringer.
    So war Johannes immer gegenwärtig!
    Allerdings datierte der letzte Brief schon vier Wochen zurück, seither war kein weiteres Lebenszeichen gekommen und Friedrich tröstete die Ahne und auch sich selber damit, dass die Briefzustellung ins Stocken geraten war, wahrscheinlich gab es viele Kämpfe oder Johannes wurde an einen anderen Abschnitt verlegt, hatte keine Zeit zum Briefeschreiben. Und wahrscheinlich war der Krieg sowieso bald zu Ende, denn Friedrich hoffte immer

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