Beerensommer
gebraucht, als wäre er für ihn wichtiger gewesen! Mein ganzes Leben lang habe ich mir darüber Gedanken gemacht. Mir scheint, als habe der eine im anderen das gesucht, was er selber nicht hatte. Johannes bewunderte an Friedrich die Kraft und die Stärke, und das meine ich nicht nur körperlich. In der Jugend war Friedrich immer der Beschützer von Johannes gewesen. Es gab eine Zeit, mitten im Krieg, da haben einige im Dorf Johannes bedroht und angepöbelt. Friedrich hat dann deutlich gemacht, dass sie es mit ihm zu tun bekommen, wenn sie dem Johannes etwas tun. Von da an war Ruhe!«
»Und warum hat man Johannes angegriffen?«
Gretl schaut Anna etwas unsicher an. »Vielleicht hast du’s schon gelesen, oder hat’s dir der Richard erzählt? Es kam wohl vom Richard Caspar, dem Vater von unserem Richard, so denke ich jedenfalls im Nachhinein. Der Vater von Johannes sei ein Italiener, hat er damals überall herumerzählt, ein ›Itaker‹, wie man die Leute hier abfällig nannte. Schon vor meiner Geburt hatten hier einige Italiener im Straßenbau gearbeitet und der alte Caspar hat etwas in der Richtung vermutet. Sein Sohn war fast krank vor Eifersucht auf Johannes, hat wohl etwas aufgeschnappt und es überall herumerzählt. Es wurde richtig gefährlich, als die Italiener nicht mit Deutschland in den Krieg gegangen sind, später haben sie sogar auf der anderen Seite gekämpft. Der Bodamer musste damals alle seine italienischen Arbeiter entlassen, obwohl das meistens tüchtige und fleißige Leute waren. Die Menschen waren eben ganz verhetzt und das hat auch der Johannes abgekriegt.«
Dass Johannes womöglich halb italienisch gewesen ist, weiß Anna ja bereits, aber über diese Anfeindungen hat er nichts geschrieben. Deshalb fragt sie nach: »War das sehr schlimm für ihn?« Blöde Frage, denkt sie noch.
Aber Gretl scheint eher amüsiert zu sein. »Irgendwie hat er das gar nicht richtig mitbekommen. War doch mit dem Kopf immer in den Wolken. Und Friedrich hat auf ihn aufgepasst. Es muss etwas ganz Besonderes für Johannes gewesen sein, dass da jemand an seiner Seite war. Einer, der ihn beschützt und der zu ihm gehört. Er war doch bis dahin immer allein, die alte Ahne zählt nicht. Und, verstehe mich bitte richtig, etwas anderes hat ihn auch noch zu Friedrich hingezogen ...«
Jetzt ist Anna neugierig. »Und das war ...?«
»Seine Schönheit! Er war ein ungewöhnlich gut aussehender Bursche. Später, als Mann, war er richtig schön, mit den dunklen Locken und den braunen Augen, groß und kräftig gewachsen. Dein Urgroßvater hat doch alles geliebt, was schön war, er hat es förmlich angebetet.«
Anna überlegt eine Weile. So ganz verstehe ich es zwar noch nicht, aber irgendwie macht es Sinn, nach allem, was ich jetzt schon weiß, denkt sie.
»Und Friedrich? Warum war Johannes für ihn so wichtig?«
»Ich kann es mir ziemlich gut vorstellen. Friedrich hat mir später etwas gesagt, was ich nie vergessen werde. ›Gretl‹, hat er gesagt, ›Gretl, Johannes war mein Gewissen.‹ Dein Urgroßvater war ein großherziger und gütiger Mensch, Anna – egal was geschehen ist, und deshalb hat ihn Friedrich auch so geliebt, weil er selber diese Güte nicht hatte!«
20
Kreischend fraß sich die Gattersäge in den großen, klobigen Baumstamm, der langsam, aber unerbittlich in das riesige Maul geschoben wurde. Weich wie Butter, dachte Friedrich zufrieden. Links und rechts fielen die exakt geschnittenen Bretter herab und in der Mitte schälten sich die rechteckigen Balken heraus, die prächtiges Bauholz abgeben würden. Die Geschäfte gingen wieder richtig gut im Sägewerk Dederer!
Unten auf dem Polderplatz lag eine Menge Holz, frisch geschlagen, und gestern Abend war einer der Holzhändler gekommen, mit denen Louis Dederer seine großen Geschäfte abwickelte, die ganz großen. Ein fetter Regierungsauftrag wohl, Stollenbretter, Holz für die Front. Jetzt würde es vielleicht vorwärts gehen. An der erstarrten Front im Westen würde im Frühjahr wohl die Entscheidung fallen, nachdem im Osten endlich Ruhe herrschte. Im fernen Russland hatte es eine große Revolution gegeben und gerade tobte ein Bürgerkrieg, das hieß Waffenstillstand für die Deutschen und die Österreicher und alle Kräfte konnte man nun, im März 1918, an der Westfront konzentrieren. Der Winter war überstanden, der letzte Kriegswinter hoffentlich, und was für ein jammervoller Winter war das wieder gewesen, Rüben und wieder Rüben und zur
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