Beethoven: Der einsame Revolutionär. (German Edition)
und waren bereit, dafür zumindest vorübergehend auf Freiheiten und politische Einflussnahme zu verzichten. Früher oder später würden neue soziale Umbrüche vielleicht unvermeidlich sein, aber man konnte doch versuchen, sie so lange wie möglich hinauszuzögern.
Optimistische Historiker haben der Epoche des Stillstands nach dem Wiener Kongress und vor der Revolution vom März 1848 den Namen Vormärz gegeben. Pessimisten nennen sie lieber Restaurationszeit. Die Realisten wiederum sprechen vom Biedermeier, nach dem fiktiven schwäbischen Schulmeister Gottlieb Biedermaier, unter dessen Namen ab 1855 Gedichte in den Münchner Fliegenden Blättern veröffentlicht wurden und der als Inbegriff treuherziger Spießigkeit gilt. Das Biedermeier war eine Geisteshaltung, zu der Bescheidenheit und Zurückhaltung gehörten und die auch sehr gut zu der typisch wienerischen Mischung aus Weltschmerz und Melancholie passte. Der Bürger jener Zeit war kein Kämpfer, sondern ein Meister im Ertragen, im Unterdrücken von Leidenschaften, im Finden von Kompromissen zwischen Wunsch und Wirklichkeit, im Verzicht auf große Ideale, in Schicksalsergebenheit. («Da kann man nix machen.») Der Bürger des Biedermeier ging Entscheidungen aus dem Weg. Er war ein Chamäleon, der Erfinder des Wörtchens jein.
So ist es nicht verwunderlich, dass der Biedermeier-Wiener an genehme, unverbindliche, harmlose und oberflächliche Freizeitbeschäftigungen und entsprechende Formen des Kulturkonsums bevorzugte. Besonderes Vergnügen bereiteten ihm Spaziergänge, an Wochenenden mit der ganzen Familie, durch die Geschäftsstraßen und über die großen Plätze der Stadt: Kärntner Straße, Graben, Kohlmarkt, Am Hof, Freyung, Bastei und zurück über Herrengasse und Michaelerplatz. Außerdem verbrachte er viel Zeit im Kaffeehaus. Das war so etwas wie sein zweites Zuhause. Im prachtvollen Interieur aus Marmor, Spiegeln, eleganten Möbeln und Silbergeschirr konnte man gemütlich plaudern, Zeitung lesen oder eine Partie Billard spielen, während im Hintergrund vielleicht ein improvisierender Pianist oder ein kleines Ensemble musizierten. Ausleben konnte man sich vor allem bei den vielen Bällen, die in den Wintermonaten veranstaltet wurden und die in Metternichs Augen die einzigen nicht staatsgefährdenden Versammlungen von mehr als drei Personen waren. Schon seit Anfang des Jahrhunderts war Wien im Bann des Walzers, in dem der Biedermeier-Mensch dem Alltag entschweben konnte. Und mit dem Tanz selbst – für Stefan Zweig eine bizarre Mischung aus Edlem und Vulgärem – hatte die dazugehörige Musik Hochkonjunktur. Die Walzer-Komponisten, erst Joseph Lanner und dann Johann Strauss Vater an der Spitze eines an Andy Warhols Factory erinnernden Kollektivs, hatten einen Stil entwickelt, der den Erwartungen an diese Gattung vollkommen entsprach. Charakteristisch für ihre Musik waren formale Übersichtlichkeit, charmante Melodik und eine ausgeprägte Rhythmik, die im Schwindel des Tanzes Halt bieten konnte. Es war eine Musik der anmutigen Geste, der Oberfläche, und sie drehte sich im engen Kreis des leicht Fasslichen.
Beethoven und Schubert mussten erleben, dass der musikalische Geschmack und die Erwartungen des Wiener Publikums sich weit von ihren eigenen Vorstellungen entfernten. Und auch ausländische Komponisten von Format wie Berlioz, Mendelssohn-Bartholdy oder Schumann konnten sich später in Wien nicht wirklich durchsetzen. Ganz anders erging es den Italienern: Rossini, aber auch Bellini und Donizetti. Vor allem Gioachino Rossinis Musik eroberte die Herzen der Wiener. 1816 stand zum ersten Mal eine seiner Opern auf dem Programm, Tancredi, und traf sofort ins Schwarze. Diese Musik hatte alles, was sich die Wiener Bürger wünschten: Sie war leichtfüßig, spritzig und leicht verständlich. Bald war die Stadt im Rossini-Fieber; in den nächsten Jahren wurden noch fünfzehn weitere Opern des Italieners gespielt. Auch Metternich gehörte zu seinen Verehrern. Als das Kärntnertortheater 1821 wieder einmal in Schwierigkeiten geriet, wusste der neuernannte Haus-, Hof- und Staatskanzler sofort, dass nur Rossinis Manager Barbaia das Schiff wieder flottbekommen konnte. Barbaia scheint nicht viel von der Oper an sich verstanden zu haben, hatte aber erst in Mailand und danach in Neapel bewiesen, dass er ein feines Gespür für die Erwartungen des Publikums besaß, was zu jener Zeit viel wichtiger war.
Barbaia trat seinen Wiener Posten am 1. Dezember 1821 an. Er
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