Befehl von oben
eines. Zu bleiben wäre das größte und gefährlichste Hasardspiel ihres Lebens. Jetzt stand ihr Land unter der strengsten Kontrolle seit Menschengedenken, und das hatte seinen Grund. Die Leute, die dem Toten ihre Liebe und Bewunderung zugeschrien hatten – was dachten sie wirklich? Vor einer Woche völlig egal, war es das jetzt gewiß nicht mehr. Und die Soldaten unter ihrem Befehl kamen aus derselben Menschenmasse. Wer von ihnen hatte das Charisma, die Führung des Landes zu übernehmen? Wer von ihnen hatte die Schlüssel zur Ba'ath-Partei?
Wer von ihnen konnte Kraft seines Willens regieren? Denn nur dann könnten sie in die Zukunft schauen, und wenn auch nicht ganz ohne Angst, so doch so, daß sie mit ihrer Erfahrung und ihrem Mut das Risiko meistern könnten, das sie eingingen. Jeder von ihnen, wie er hier an der Rennbahn stand, sah sich in der Runde seiner Offiziersbrüder um und stellte sich dieselbe Frage: Wer?
Das war der Haken: Wäre unter ihnen ein solcher gewesen, wäre er gewiß schon tot, am ehesten durch einen tragischen Hubschrauberunfall. Und Diktatur ließ sich nicht im Komitee betreiben. So stark, wie sie sich einzeln fühlten, sah jeder auf andere und erkannte potentielle Schwächen. Kleinliche Eifersüchteleien würden sie vernichten. Rangeleien und Rivalitäten würden vermutlich solchen internen Zwist verursachen, daß die eiserne Hand, die das Volk unter Kontrolle halten sollte, schwach würde. Und binnen weniger Monate würde alles auseinanderfallen. Das kannten sie alle, und im Endergebnis erblickten sie ihren Tod, eine Reihe der eigenen Soldaten vor ihnen und die Mauer im Rücken.
Für diese Männer gab es kein anderes Ethos als Macht und deren Ausübung. Das genügte für einen Menschen, aber nicht für viele: Viele mußten um etwas herum vereint werden, sei es der Befehl eines Vorgesetzten oder ein gemeinsames Ideal; jedenfalls etwas, das einen gemeinsamen Ausblick bot. Keiner von ihnen vermochte ersteres, und gemeinsam fehlte ihnen letzteres. So mächtig jeder einzeln sein mochte, waren sie auf fundamentale Weise auch schwach, und als die Offiziere da standen und sich zueinander umblickten, wußten sie es alle. Im Grunde glaubten sie an nichts. Was sie mit Waffengewalt erzwangen, konnten sie mit ihrem Willen nicht durchsetzen. Von hinten konnten sie kommandieren, aber nicht von vorn führen. Wenigstens waren die meisten intelligent genug, das auch zu wissen. Und darum war Badrayn nach Bagdad geflogen.
Er sah ihnen in die Augen und wußte, was sie dachten, wie unbewegt ihre Gesichter auch waren. Ein Unerschrockener hätte sich voller Selbstvertrauen vor die anderen hingestellt und die Führung der Gruppe übernommen. Aber die Unerschrockenen waren längst tot, hingemetzelt von einem Unerschrockeneren und Erbarmungsloseren, und der wiederum niedergestreckt von der ungesehenen Hand eines noch Geduldigeren und noch Erbarmungsloseren. Badrayn wußte, was die Antwort sein mußte, und sie auch. Der tote irakische Präsident hatte nichts hinterlassen, das ihn ersetzen konnte.
*
Diesmal klingelte das Telefon um 6.05 Uhr. Ryan machte es nichts aus, vor 7.00 Uhr geweckt zu werden. Das war jahrelang seine Zeit gewesen, und dann mußte er noch mit dem Auto zur Arbeit fahren.
»Ja?«
»Mr. President?« Jack war überrascht, Arnies Stimme zu hören. Andererseits hätte er es auch wissen müssen: Wer zum Teufel hätte sonst am Telefon sein können?
»Was ist?«
»Ärger.«
Vizepräsident Edward J. Kealty hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, doch seinem Aussehen hätte man das nicht angemerkt. Rosig rasiert, klaren Blickes und gestreckten Rückens schritt er mit seiner Frau und seinen Adjutanten in das CNN-Gebäude. Am Eingang wurde er von einem Produzenten abgeholt und in einen Fahrstuhl gezaubert für die Fahrt nach oben. Nur die üblichen Freundlichkeiten wurden ausgetauscht. Der Karrierepolitiker starrte vorwärts, als wollte er die rostfreien Stahltüren davon überzeugen, daß er wußte, was er tat. Mit Erfolg.
Die vorbereitenden Telefonate waren in drei vorangegangenen Stunden getätigt worden, beginnend mit dem Chef des Nachrichtensenders, einem alten Freund. Zum erstenmal in seiner Karriere war der TV-Boß wie vom Donner gerührt. Man rechnete halbwegs mit Flugzeugabstürzen, Eisenbahnunglücken, Gewaltverbrechen – Routinekatastrophen, von denen die Medien lebten –, doch was derartiges war ein Ereignis des Lebens. Zwei Stunden zuvor hatte er Arnie van Damm angerufen, auch
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