Befreiung vom Überfluss: Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie (German Edition)
Versorgung dienen, sondern durch die das Einkommen zur Finanzierung der externen Güterzufuhr erzielt wird. Somit müssen sie ihre Fähigkeiten und Zeit einer arbeitsteiligen Produktion zur Verfügung stellen. Die solchermaßen miteinander verzahnten angebots- und nachfrageseitigen Spezialisierungen ergänzen sich zu dem, was im Folgenden als Fremdversorgungssystem bezeichnet werden soll.
Wer hoch fliegt, fällt umso tiefer
Das System der Fremdversorgung verursacht nicht nur die bereits skizzierten Entgrenzungsvorgänge, sondern noch etwas anderes. Wenn Bedürfnisse, die vormals durch handwerkliche Tätigkeiten, Eigenarbeit, Subsistenz, lokale Versorgung und soziale Netzwerke befriedigt wurden oder denen schlicht mit Entsagung begegnet werden konnte (oder musste), Zug um Zug durch käufliche Produkte, Dienstleistungen und Komfort generierende Automatisierung/ Mechanisierung abgedeckt werden, ist die Existenzsicherung schicksalhaft äußeren Umständen ausgeliefert.
Diese Folgen des Fremdversorgungssyndroms offenbaren sich, wenn auf den damit zwingend einhergehenden strukturellen Wandel auf der Nachfrageseite fokussiert wird. Indem Haushalte jede Fähigkeit zur Selbstversorgung zugunsten eines spezialisierten Arbeitsplatzes aufgeben, der ein monetäres Einkommen mit höherer Kaufkraft verspricht – das ist der allgegenwärtige Lockvogel des mühelosen und prosperierenden Lebens –, begeben sie sich in mehrfache Abhängigkeiten. Das vollständig fremdversorgte Individuum benötigt den Zugriff auf nie versiegende Geldquellen, die durch Erwerbsarbeit im Industrie- und Dienstleistungssektor, durch Unternehmensgewinne oder staatliche Transferleistungen gespeist werden. Der solchermaßen von äußerer Zufuhr abhängige homo consumens wäre zum Aussterben verdammt, wenn alle Supermärkte der Welt vier Wochen lang geschlossen wären. Denn jegliche Fähigkeiten, durch eigene substanzielle, manuelle, handwerkliche Leistungen oder lokale Ressourcen direkt zum Erhalt menschlicher Daseinsgrundfunktionen beizutragen, sind ihm beim Erklimmen immer höherer Versorgungsniveaus, die wiederum spezialisierte Tätigkeiten im arbeitsteiligen Wertschöpfungsprozess er fordern, abhandengekommen.
Die Geldabhängigkeit wächst mit kulturell induzierten Ansprüchen an materielle Selbstverwirklichung. Einher damit geht auch eine stetige Anhebung des monetären Versorgungsminimums, also dessen, was als Armuts- oder Zumutbarkeitsgrenze deklariert wird. Insoweit jede Facette des menschlichen Daseins, jedes noch so belanglose Strukturieren von Zeit mit dem Abruf irgendwelcher Konsumobjekte oder Komfort erzeugender Infrastrukturen verbunden ist, muss auch das Soziale komplett im Ökonomischen aufgehen. Denn nach dieser Logik bedeuten individuelle Freiheit und eine angemessene Teilhabe an der Gesellschaft, sich so viel leisten zu können wie andere. Folglich kann sich sozialer Fortschritt nur als ökonomische Expansion (also noch mehr Fremdversorgungsleistungen) artikulieren, ganz gleich ob die extern zugeführten Leistungen vom Markt oder vom Staat abgerufen werden.
Aber wer hoch fliegt, fällt umso tiefer. Komfortable Fremdversorgung wird mit enormer Verletzlichkeit erkauft. Kein Wunder also, dass mit dieser Art von Wohlstand zwangsläufig auch die Angst wächst, genauer: die Verlustangst. Je höher nämlich das erklommene Niveau an Komfort, Mobilität und Konsum, umso katastrophaler der Absturz, wenn all dies plötzlich entzogen wird. Die Hilflosigkeit wird noch dadurch beflügelt, dass der Weg in den Überfluss bedeutet, sich eigener nichtkonsumtiver Fähigkeiten zu entledigen. Wer es sich in der wattierten Nonstop-Rundumversorgung gemütlich gemacht hat, kann nicht zugleich die Souveränität eines Individuums bewahren, das seine Ansprüche nur an jene Möglichkeiten bindet, die nötigenfalls durch eigene Leistungen reproduziert werden können. Wer den ersten Weg geht, lebt in ständiger Angst vor dem Weniger. Deshalb ist Fremdversorgung nicht nur Folge und Ursache für geteilte Zukunftserwartungen, sondern prägt auch eine Angstkultur, ist also Quelle für geteilte Zukunftsängste. Genauso wie ein Heroinabhängiger wider besseres Wissen den Dealer schützt, steigt beim Geldabhängigen mit zunehmendem Konsumniveau die panische Angst davor, dass die Geld speiende Wachstumsmaschine auch nur ins Stocken geraten könnte. Dieser Sachzwang beherrscht und marginalisiert den Manövrierspielraum einer nachhaltigen Entwicklung: Sie steht immer
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