Befreiung vom Überfluss: Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie (German Edition)
folglich mit entsprechender Verzögerung, dass PKW-Katalysatoren Edelmetall-, Keramikfaser-, Lachgas- und Ammoniak-Emissionen freisetzen. Insbesondere die Letzteren werden inzwischen als Grund dafür gesehen, dass sich die Moos- und Flechtenvegetation an den Rändern vielbefahrener Straßen signifikant verändert haben.
Ein weiteres Beispiel: Viele der aktuell diskutierten Entkopplungsstrategien setzen innovative Lösungen im Bereich der Digitalisierung, Mikro- und Halbleiterelektronik vor allem in der drahtlosen Kommunikation voraus. Über die zukünftigen Auswirkungen einer stetig kumulierten Strahlenbelastung – um nur eines der ungelösten Probleme dieses Technologieparadigmas zu benennen – existieren bislang keine verlässlichen Studien. Hierzu wären epidemiologische Langzeituntersuchungen nötig, die aber aus gutem Grund nie stattgefunden haben. Denn mit Hilfe welcher auch nur halbwegs realitätsnahen »Versuchsanordnung« ließe sich ein Phänomen erfassen, dessen raumzeitliche Wirkmächtigkeit auf einen derart komplexen Systemzusammenhang trifft? Somit ist die massenhafte Verbreitung strahlender Endgeräte und Mobilfunkbasisstationen zugleich Experiment und Ernstfall. Und wir alle sind die Versuchskaninchen. Dies führt unweigerlich dazu, dass vorher nicht im Entferntesten zu erahnende Nebenwirkungen frühestens mit der Schaffung vollendeter Tatsachen aufgedeckt werden. Aber dann ist es zu spät für Korrekturen: erstens weil die bereits eingetretenen ökologischen und gesundheitlichen Schäden nicht mehr rückgängig zu machen sind, zweitens weil sich auf dieser Basis längst Verwertungsinteressen herausgebildet haben, die sich bestens zu verteidigen wissen, und drittens weil sich moderne IT-Endgeräte zu einer unverzichtbaren Symbolik für individuelle Selbstdarstellung entwickelt haben. Zudem wäre es schlicht undenkbar, alle Mobiltelefone wieder einzusammeln, sollte sich herausstellen, dass deren Strahlenbelastung die Wahrscheinlichkeit von Gehirntumoren und Erbschäden eben doch signifikant erhöht.
Ein weiteres Beispiel für die unbeherrschbaren Ambivalenzen technischer Innovationen bilden derzeit angebotene, besonders preisgünstige Lösungen zur nachträglichen Wärmedämmung durch Isolierschaum. Es könnte sich herausstellen, dass deren Formaldehyd-Ausdünstungen schwerwiegende gesundheitliche Folgen verursachen. Aber wenn dies zu einem empirisch belastbaren Befund geworden ist, sind längst so viele zweischalige Mauerwerke ausgeschäumt worden, dass gesundheitliche Schäden längst eingetreten sind und eine Entfernung des Dämmmaterials kaum oder nur unter prohibitiv hohem Aufwand möglich wäre. Zudem könnte die an diesem Produkt verdienende Industrie längst zu einem unüberwindbaren Machtfaktor gediehen sein.
Ein noch besseres Beispiel dafür, dass die Nebenwirkungen innovativer Entkopplungslösungen oft nicht zu steuern, geschweige denn zu bremsen sind, bietet die Bio-Energie. Die Geschwindigkeit, mit der sich hier ein technologischer Hoffnungsträger als ökologisches und soziales Desaster entpuppte, sucht ihresgleichen. Dennoch ist es für wirksame Korrekturen bereits zu spät: Die schon nach kurzer Zeit etablierten Verwertungsinteressen und Investitionen, die als vollendete Tatsache in der Landschaft stehen, haben längst eine kaum mehr zu bremsende Dynamik in Gang gesetzt. Die nächsten Wellen an ähnlichen, im Vorhinein kaum abschätzbaren Problemverschärfungen und sich verstärkenden Risikopotenzialen zeichnen sich bereits ab: Elektromobilität, Freiflächenphotovoltaik, Desertec, Carbon Capture and Storage (CCS), Pumpspeicherkraftwerke, Smart Homes etc.
Die Tragik innovativer Entkopplungsmaßnahmen besteht nicht zuletzt darin, dass ihr ohnehin nur theoretisches Problemlösungspotenzial auf genau jener Fortschrittslogik gründet, welche die zu lösenden Probleme überhaupt erst verursacht hat. Nach moderner Lesart bedeutet Fortschritt nicht nur, einen aktuellen Zustand zugunsten eines »besseren« zu überwinden, sondern den Letzteren im Neuland noch nicht erschlossener, folglich noch nicht erprobter Möglichkeiten zu verorten. Genau deshalb ist in der innovationsgetriebenen Moderne kein Fortschritt ohne Risiko möglich. Wollte man tiefgreifende Modernisierungsrisiken vermeiden, wäre dies nur zum Preis einer Beibehaltung des aktuellen oder der Wiedererlangung eines vorangegangenen, also bereits erkundeten Zustandes zu haben. Eben diese beiden Alternativen – Stillstand oder
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