Begegnung in Tiflis
allerwenigsten auf unerklärliche Dinge. Moskau macht sich allein ein Bild über die Vorkommnisse; man braucht keine kapitalistischen Ausflüchte. »Sie sprach Russisch?«
»Das wissen wir nicht.« Der Oberingenieur machte ratlose Augen. »Das müßte das Personalbüro wissen.«
»Wir wissen es!« sagte Jassenskij steif. »Das genügt vollauf. Die Trümmer des Flugzeuges stehen Ihnen zur Verfügung. Der Platzkommandant wird Sie bei allen Untersuchungen unterstützen.« Oberst Jassenskij wandte sich ab, aber er kehrte noch einmal zurück. »Kennen Sie Bettina Wolter?«
»Nein.« Der Oberingenieur starrte den Oberst etwas betroffen an. Bisher war der Empfang kühl, ja eisig gewesen. Ein paar Worte des Bedauerns, dann Fragen, die wie ein Verhör klangen. »Wir haben einige … zig Stewardessen. Man kennt sie beim fliegenden Personal, aber in der Konstruktionsabteilung …«
»Danke.« Oberst Jassenskij nickte wieder. »Die Toten und auch die verletzten Passagiere, soweit sie transportfähig sind, können in ihre Heimatländer geflogen werden. Lediglich die beiden Piloten bleiben in Tiflis.«
»Darf ich fragen, warum?« sagte der deutsche Delegationsleiter, nun ebenso kühl wie Jassenskij. Und er erhielt die Antwort, die er erwartet hatte und die ein Bibelspruch der Russen war:
»Fragen Sie bitte in Moskau nach. Wir haben Befehle direkt aus Moskau.«
Und man fragte nicht weiter. Moskau war weit.
Und im übrigen war das eine Aufgabe der deutschen Botschaft.
*
»Hast du die zweihundert Gramm Wodka mitgebracht, mein Söhnchen?« rief Kolka Iwanowitsch Kabanow, als er seinen Ziehsohn Dimitri im Flur hörte.
Auf einem Korbsessel saß er, in Hemd und Hose und Pantoffeln an den Füßen, die weißen Haare noch struppig von der Nacht. Die Zähne hatte er sich schon geputzt und einen Tee aufgeschüttet. Auf dem Gasherd stand die Pfanne mit Eiern und Speck bereit. Aus dem Backofen duftete frisches Weißbrot, denn der alte Kolka buk das Brot selbst, weil ihm das Brot in Tiflis nicht schmeckte. »Nach Öl riecht es!« sagte er immer. »Und wenn man's ißt – bei Gott, auch einen Öllappen könnte man kauen. Alles stinkt hier nach Öl.« Das war übertrieben, aber man hatte es sich angewöhnt, über das Nörgeln von Väterchen Kolka hinwegzuhören. Er meinte es auch gar nicht so, aber irgend etwas muß der Mensch ja haben, worüber er schimpfen darf. Um Politik kümmerte sich Kolka wenig, an die Rationalisierungen hatte er sich gewöhnt, das Thema der Parteibonzen war erschöpft, vom Großen Vaterländischen Krieg kann man nicht ewig erzählen … ich frage, was bleibt einem alten Väterchen anderes übrig, als übers Essen zu schimpfen? Und da er ein vorzügliches Brot buk, ertrug Dimitri das Schimpfen und gab seinem Väterchen sogar recht. So hat man am ehesten Ruhe. Es ist ja so einfach, ruhig zu leben.
»Hast du den Wodka, Dimitri?« rief Kolka noch einmal, als die Haustür zuklappte.
Das mit dem Wodka war auch so eine Angewohnheit des Alten. Er trank ihn gar nicht am Morgen, aber er stellte die Flasche mit den 200 Gramm auf das Büfett, als sei es eine Blumenvase mit Orchideen, und besah sie sich den ganzen Tag. Erst am Abend begann er, ein Gläschen nach dem anderen zu trinken, zusammen mit kleinen Stückchen Speck, die er auf eine Messerspitze aufspießte. Das war sein Abendessen. Dazu eine dicke Scheibe seines Brotes. Seit Jahren kannte Dimitri das so: ein blanker Tisch, ein Holzbrett mit Speck und das kleine, hohe Gläschen mit wasserhellem Wodka. Es war, als ob sich Kolka den ganzen Tag auf diese Stunde in der Abenddämmerung freute … vielleicht das letzte Vergnügen, das ihm nach einem schweren Leben geblieben war.
»Gibt es was Neues, Söhnchen?« fragte Kolka. Er stand auf, ging zum Gasherd, knipste die Flamme an, schob die Pfanne darauf und ging zu seinem Korbsessel zurück. »Du kommst später als sonst.«
»Nichts Neues, Kolka Iwanowitsch!« rief Dimitri vom Flur und schob ein Mädchen vor sich her zur Zimmertür. Unter seinen Händen, die auf ihren Schultern lagen, spürte er ihr Beben. »Keine Angst, Wanduscha«, flüsterte er und strich ihr über die kurzen blonden Haare. »Er ist ein gutes Väterchen. Ein wenig grob, aber was macht's? Ein hartes Leben hatte er. Mamuschka sprach darüber, er nie. Schwer verwundet war er im Krieg, auf den Tod lag er, mit drei Lungenschüssen. Und nie mehr erholt hat er sich davon. Ab und zu hustet er noch. Dann sagt er: ›Hört, hört – eine tönende Postkarte
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