Begegnung in Tiflis
hüstelte und bückte sich neben Wolter an das Eisengitter.
»Alles klar«, flüsterte er. »Wir haben's auf Band. Sie können gehen.«
Gehorsam entfernte sich Wolter zu seinem am Straßenrand abgestellten Wagen. Er ging wie eine aufgezogene Puppe, mit steifen Beinen und durchgedrücktem Kreuz.
Bettina in Moskau! Es waren ihre Mütze, ihr Paß, ihr Unterhemd. Es gab gar keine Zweifel mehr: Sie war zu einem Druckmittel geworden. Im Kampf der Geheimdienste wurde sie zerrieben.
Wie soll das weitergehen, dachte Wolter, als er in seinem Wagen saß. Die Sonne brannte auf das Dach, es war erstickend heiß, aber er kurbelte nicht die Fenster herunter, um frische Luft in den Wagen zu lassen.
Was wird aus Bettina werden?
Wird man sie in Workuta elend zugrunde gehen lassen, wie Tausende vor ihr?
O mein Gott, in welcher Zeit leben wir!
Warum müssen die Völker sich hassen? Warum benehmen sich die Menschen wie reißende Tiere? Wir haben doch alle Platz auf dieser Welt.
Langsam fuhr er zurück nach Bonn und zur Wohnung seiner Mutter.
Irene Brandes war bei ihr, und als Wolfgang eintrat, sah er an dem fragenden Blick seiner Mutter, daß Irene ihr alles erzählt hatte.
»Warum hast du das getan?« fragte er Irene, ohne nachzuforschen.
»Es ist besser so, Wolf«, sagte Irene.
Agnes Wolter sah ihren Sohn aus müden Augen an. Sie war in diesen wenigen Wochen sehr gealtert. Wer sie jetzt in Göttingen gesehen hätte, die alten Kunden in dem kleinen Wäschegeschäft, wäre entsetzt gewesen. Tiefe Falten lagen um ihre Mundwinkel, das immer sorgsam gepflegte und frisierte Haar war weiß und strohig, ohne Leben, und nur in losen Wellen um den Kopf gelegt. Eine Mutter, die im Leid zusammengeschrumpft war.
»Warum hast du mich belogen, Wolf?« fragte sie leise, als sich Wolfgang auf die Couch setzte und nervös eine Zigarette anzündete, die ihm Irene herüberreichte.
»Ich wollte dir das alles ersparen, Mutter.«
»Ungewißheit ist viel schlimmer, Junge. Nun weiß ich, wo Bettina ist. Nun weiß ich, daß sie lebt! Das ist schön, das macht mich glücklich, auch wenn alles, was damit zusammenhängt, so schrecklich ist. Aber die Ungewißheit … ich habe sie einmal erlebt, als dein Vater in Rußland vermißt wurde, und ich habe sie jetzt noch nicht überwunden. Sicher, er ist tot. Der Kamerad von Vater hat es mir ja damals, als er heimkehrte aus dem Gefangenenlager, erzählt. Aber ich habe es nicht geglaubt, fünfzehn Jahre lang nicht. Ich bin Irene so dankbar, daß sie mich nicht wieder solche Jahre durchleiden läßt.«
»Ich habe Sachen von Bettina gesehen«, sagte Wolfgang Wolter tonlos. »Sie ist in Moskau.«
»Gott sei Dank!« Es war wie ein Aufschrei. Wie ein Glanz durchzog es die müden Augen Agnes Wolters'. »Und nun wird man uns helfen, nicht wahr?«
Wolter sah mit einem qualvollen Blick zu Irene. Was soll man darauf antworten, hieß diese stumme Frage. Soll ich ihr wirklich die Wahrheit sagen: Niemand wird uns helfen können! Was nützt ein Protest? Er würde unbeantwortet zerrissen. Was nützt die Mobilisierung der Öffentlichkeit? Der nächste Boxkampf, das nächste Fußball-Länderspiel wischt den Namen Bettina Wolter aus dem Gedächtnis der Millionen. Und wenn dann noch ein schöner Massenmord kommt, der die Menschen am Morgenkaffeetisch wohlig erschauern läßt – wer denkt da noch an das Mädchen, das in Moskau sitzt?
Was ist schon der einzelne in einer Welt, in der ein Mensch zu einer Zahl, zu einem Objekt geworden ist und sein eigenes Gesicht verloren hat?
»Borokin hat mir versprochen, für die schnelle Rückkehr Bettinas zu sorgen«, log Wolter und sah in den Rauch seiner Zigarette, um dem Blick seiner Mutter auszuweichen.
»Es scheint ein guter Mensch zu sein, dieser Borokin«, sagte Agnes Wolter in völliger Verkennung der Situation. Sie war eine alte, gütige Frau ohne Falsch und Lüge. Sie kannte keine Intrigen, verstand nichts von der Politik, sah in den Menschen nur das Gute, glaubte an die menschliche Seele. Auch in Jurij Alexandrowitsch Borokin sah sie den guten Menschen, der versprach, Bettina aus Moskau zurückzuholen. Daß er lügen konnte, daß Wolfgang, Irene und auch sie, Agnes Wolter, Akteure eines Spiels geworden waren, das keine Gnade kannte und noch weniger Menschlichkeit, das alles kam ihr nicht in den Sinn. Sie war Bettinas Mutter, und sie glaubte an die Rückkehr ihrer Tochter.
Der Preis? Kein Preis war hoch genug, um das eigene Kind zurückzuerhalten. Eine Mutter denkt anders
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