Begegnung in Tiflis
als ein Politiker. Vielleicht sähe die Welt anders aus, wenn die Politiker Mütter wären …
An diesem Tage war Agnes Wolter glücklich. Die scharfen Falten in ihren Mundwinkeln schienen wie weggebügelt. Ihre Augen hatten wieder Glanz bekommen. Sie machte zum Abendessen das Leibgericht Wolfgangs: Farsumagru, die italienische Art einer gefüllten Kalbsroulade, mit Salami, Rahmquark, Speck, Tomaten, Hackfleisch und hartgekochten Eiern.
Wolfgang und Irene aßen nur wenig. Jeder Bissen blieb ihnen in der Kehle stecken, als säße ein Pfropfen zwischen Mund und Magen.
Agnes Wolter aber war sichtbar glücklich. Bettina lebte. Es ging ihr gut. Daß sie, wie man sagte, in Moskau war, hatte für Agnes Wolter keinerlei Bedeutung. Ob Moskau oder London oder Rom – Bettina würde bald zurückkommen.
Nach dem Essen fuhren Wolfgang und Irene wieder nach Köln. Außerhalb der Stadt, in einer Villa in Lindenthal, trafen sie mit einem Mann zusammen, den Wolfgang Wolter ›Herr Oberst‹ nannte.
»Wir haben die Bänder abgespielt«, sagte der Oberst, »die man am Rhein bei Ihrem Treff aufgenommen hat. Ist ja ein tolles Ding, was? Wir müssen diesen Kontakt unter allen Umständen beibehalten.«
»Und meine Schwester, Herr Oberst?« fragte Wolter.
»Tja, das ist ein Problem.« Der ungenannte Oberst schüttelte die Eisstückchen in seinem Whiskybecher. »Rechtlich ist da gar nichts zu machen. Wenn die Sowjets sie nicht freiwillig herausgeben …«
»Ich weiß, Herr Oberst«, antwortete Wolter gepreßt.
»Sie wissen doch hoffentlich auch, daß diese Absprache: Bettina gegen Meldungen – daß dies ein Windei ist? Wenn die Sowjets nicht wollen …«
»Das heißt also, daß meine Schwester abgeschrieben ist?« sagte Wolter laut. »Ich kann tun, was ich will … ich bin angewiesen auf die Gnade der anderen.«
»Leider, leider!« Der Oberst trank vorsichtig seinen eiskalten Whisky. Er war magenkrank und empfindlich gegen große Unterkühlung. »Es ist ein Scheißdreck – verzeihen Sie –, so zwischen die Mahlsteine der Geheimdienste zu kommen.«
Wolfgang Wolter trat ans Fenster und starrte hinaus in den nächtlichen Garten. Rosensträucher blühten, Jasmin und Holunder.
»Wir haben keine Möglichkeit, zu intervenieren?« fragte er.
»Keine. Im Osten, ich bitte Sie!«
Wolter schloß die Augen. Sein Kopf sank gegen die kühle Scheibe.
Er wußte nun, daß er nach dem Vater jetzt auch die Schwester in Rußland verloren hatte.
*
In Beirut empfing eine Abordnung der sowjetischen Handelsmission die Genossen aus Tiflis mit Händeschütteln, Bruderkuß und Umarmungen. Sechs Wissenschaftler und Ingenieure waren es, die zum Kongreß der Ölfachleute aus der Sowjetunion angeflogen kamen und nun den Boden Libanons betraten. Sie waren alle ein wenig unmodern gekleidet, mit zu weiten Hosenbeinen und sackähnlichen Jacketts, aber sie fühlten sich wohl, das sah man, freuten sich wie beschenkte Kinder auf die acht Tage Beirut, von denen die wissenschaftlichen Sitzungen die unwichtigsten waren. Im Beirut des Jahres 1966 gab es Nachtlokale, so hatte man ihnen in Tiflis zugeflüstert. Bauchtänzerinnen, mit Diamanten im Nabel. Nackttänzerinnen, die nach dem Auftritt an die Tische kamen und sich den Männern auf den Schoß setzten. Verschwiegene Hinterzimmer, wo orientalische Nächte zelebriert wurden, wie sie in keinem Märchenbuch standen. Oha, Genossen, das muß man kennenlernen! So etwas gehört zur Kenntnis von der Dekadenz des Westens! Wie soll man über Dinge reden, wenn man an ihnen nur vorbeigegangen ist?
Und so freuten sich die sechs aus Tiflis ehrlich auf Beirut und erwiderten die Bruderküsse ihrer sowjetischen Landsleute mit Enthusiasmus. Nur Dimitri Sergejewitsch Sotowskij war etwas verschlossener. Er küßte auch, ließ sich umarmen, sagte nette Höflichkeiten, lachte über die Vorfreude der anderen, die von Betten mit Spiegeln an der Decke träumten, aber das war nur Theater.
Schon während des ganzen Fluges hatte er still auf seinem Platz gesessen, hatte in die Wolken gestarrt, in das Blau der Atmosphäre, über das unter ihm vorbeifliegende, meist öde und felsige Land, das überging in Steppe und in eine Wüste, in der wie grüne Kleckse die Oasen lagen, als seien sie aus Schweißperlen geboren, und er dachte nur an Wanda Fjodorowa, die nun plötzlich Bettina heißen sollte.
Ab und zu sah er auf seine Uhr.
Noch drei Stunden … noch zwei Stunden … nur noch eine halbe Stunde bis zur Freiheit.
Beirut. Eine weiße
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