Begegnung in Tiflis
Rest des Meerwassers kam aus ihrer Lunge und dem Magen. Nicht schön sah es aus, aber es rettete ihr das Leben.
Nebenan erging es Kolka nicht anders. Nur reagierte er schneller als Bettina. Er roch den Wodka, er schmeckte ihn auf der Zunge, er schluckte ihn hinunter und er erbrach ihn wieder – aber gleich munter war er dadurch, die Augen nahmen die Umwelt wahr, und während er noch würgte, in den kurzen Pausen bis zum nächsten Schuß Meerwasser aus seinem Magen, keuchte er: »Haltet den Wodka bereit … Dank, Freunde, Dank … Oh, dieses Meer! Oh! … Mein Magen kommt mit, Genossen … Ich kotze mir die Lunge aus …«
Dann saß er auf der Kiste, schlaff und müde und mit zuckendem Magen, sah auf Bettina, die von Fedja gehalten wurde und ganz langsam, Schlückchen für Schlückchen, Wodka aus dem Löffel trank, und umarmte die beiden neben ihm stehenden Fischer und tat einen Schrei, der alle zusammenzucken ließ.
»Wir leben!« brüllte er dann. »Wir leben! Freunde, wo sind wir? Seid ihr gute Menschen? Ach, was frage ich? Und wenn ihr Satane wärt: Wir atmen wieder. Schrecklich ist's, mit offenen Augen zu sterben. Oh, wie ich es hasse, das Meer!«
»Du bist kein Fischer?« fragte der ältere der Männer und schob Kolka als Stütze einen Sack Hirse in den Rücken.
»Ich komme aus Tiflis, Bürger.«
»Und das Boot? Es war einmal ein gutes Fangboot. Woher ist es?«
»Von einem guten Freund. Agafonow heißt er.« Kolka blickte zur Seite. Dort hatte man Bettina wieder zurückgelegt, wickelte sie in Decken und hob sie hoch, um sie wegzutragen. Sie sagte kein Wort; nur ihr großen blauen Augen sahen umher, erfaßten Kolka und blickten ihn lange an. Sie war zu schwach, um zu sprechen, und doch schien sie etwas zu sagen, denn ihre Lippen bewegten sich.
»Ich komme mit«, sagte Kolka und nickte ihr zu. »Freunde, wohin bringt ihr sie?«
»Zu mir«, sagte der große Fischer. »Meine Frau wird euch pflegen. Ich bin Gawril Andrejewitsch Kokurin.«
Es war eine gute Idee, Bettina und Kolka dorthin zu bringen. Die Kokurina, eine große, stämmige Frau, fragte nicht lange, ob es recht sei, sie wusch Kolka und Bettina mit heißem und dann kaltem Wasser und schrubbte sie mit einer harten Bürste, daß die Haut brennendrot wurde.
Dann gab sie ihnen heiße Milch mit Honig zu trinken, kochte einen fleischigen weißen Fisch und übergoß ihn mit Dilltunke. Es war ein Festtag nach all der Qual, und Kolka und Bettina fühlten sich, als habe der Sturm sie geradewegs in den Himmel getrieben.
Am frühen Morgen wachte Kolka auf und fühlte sich frisch wie nie. Neben ihm lag Bettina und schlief noch, und er kroch ganz leise unter den Decken heraus, tappte mit bloßen Füßen aus der Stube und suchte die Küche, den Zentralraum eines russischen Hauses.
Das Haus war leer. Gawril war schon auf dem Meer und fischte, und die Kokurina stand draußen an einem Holzbottich und wusch Wäsche. Dazu schlug sie mit einem flachen Schlegel auf die dampfenden Teile, und ihre mächtige Brust wogte im Dunst der kochenden Lauge. Ein wohltuendes Bild von Kraft, so fand es Kolka, trat vom Fenster weg und schnupperte zum Herd hin, wo es nach gebratenem Fisch roch.
Aber er kam nicht bis zu der angestellten Pfanne. In der schönen Ecke – der Ecke, in der der Tisch steht und wo früher eine Ikone mit dem ewigen Licht und einem Strauß Strohblumen hing – sah Kolka ein Bild.
Eine in einen einfachen Holzrahmen eingefaßte, verwaschene, undeutliche, verblichene Fotografie. Ein tief verschneiter Wald. Im Eis erstarrte Bäume. Die himmelhoch ragende Wand eines Urwaldes. Taiga …
Und davor, im Schnee, bis zu den Knien eingesunken, eine Gruppe Menschen.
Männer in grauen langen Mänteln. Den Kragen hochgeschlagen. Selbstgeschnitzte Pfeifen im Mund. Auf den Köpfen die sibirischen Pelzmützen mit den langen Ohrenklappen. Hohlwangige, ausgehungerte, aber lachende Gesichter. Tiefliegende Augen, aber ein Glanz in ihnen, der hieß: Wir haben überlebt!
Und der Rauch ihrer Pfeifen lag wie eine geballte Masse Dampf über ihren Köpfen, zwischen den kleinen Menschen und der riesigen Taiga.
Kolka hob den Kopf und schnupperte.
Der beißende Geruch von Machorka und getrocknetem Farnkraut. Er war wieder in der Nase. Er kitzelte, aber er war so herrlich, so lebensbejahend, so heiß voll Leben.
Eine Pfeife Machorka … Sibirien 1947 …
Und man lebte.
O Gott!
Kolka starrte das Bild an. Deutsche Plennys im Wald. Die Wachmannschaften machten manchmal solche
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